Das große Haus (German Edition)
Andere Dinge blieben liegen, wurden nicht mehr in Ordnung gebracht oder repariert. Es bröckelte von innen. Wenn er sprach, rissen klaffende Lücken auf. Einmal fand ich ihn auf allen vieren über eine Stelle auf dem Holzboden gebeugt: einen Kratzer, den er inspizierte und mit einem Gemurmel talmudischer Weisheiten bedachte, die er als Junge gelernt, aber vergessen hatte, weil er nichts damit anfangen konnte – bis der Kratzer sie ihm in Erinnerung rief. Ich habe keine, auch nicht die geringste Ahnung, was er über das Leben nach dem Tod dachte. Wir sprachen nicht über persönliche Dinge. Wir grüßten einander aus weiter Entfernung, von Berggipfel zu Berggipfel. Mit dem Klirren eines Löffels in der Teetasse, mit einem Räuspern. Diskussionen, wenn es denn welche gab, beschränkten sich auf die beste Wollsorte, woher sie kam, von welchem Tier, welcher Machart. Er starb friedlich in seinem Bett, ohne einen einzigen schmutzigen Teller im Spülbecken. Bei jedem Glas Wasser, das am Hahn gefüllt wurde, hatte er das Spülbecken trocken gewischt, um dem fleckenfreien Edelstahl keine Schande zu machen. Ein paarmal habe ich für beide Eltern Jahrzeitlichter angezündet, es mir aber bald wieder abgewöhnt. Meine Besuche an ihren Gräbern kann ich an einer Hand abzählen. Die Toten sind tot, und wenn ich sie besuchen will, habe ich meine Erinnerungen – so sah ich das, wenn ich es überhaupt sah. Aber auch die Erinnerungen hielt ich mir vom Leibe. Hat der Tod der Nächsten nicht immer einen Stachel, etwas von einem leisen, aber unmissverständlichen Tadel? Ist es das, was du aus meinem Tod machen wirst, Dov? Die letzte Rate der ewig tadelnden langen Rüge, für die du mein Leben hieltest?
Ich näherte mich dem Ende, da kamst du nach Hause. Mit deinem Koffer in der Hand standest du im Flur, und ich dachte – so schien es mir –, es wäre ein Anfang. Bin ich zu spät? Wo bist du? Du müsstest schon seit Stunden wieder zu Hause sein. Was hält dich auf? Irgendetwas stimmt nicht, ich spüre es. Deine Mutter kann sich nicht mehr um dich sorgen. Jetzt fällt das mir zu. Zehn Tage lang bin ich aufgewacht und fand dich hier, an diesem Tisch sitzend. So eine kurze Zeit, und doch habe ich mich schon darauf verlassen. Aber heute Morgen, an dem Morgen, an dem ich in der Absicht die Treppe herunterkam, das Schweigen zu brechen und endlich eine Waffenruhe anzubieten, war der Tisch leer.
Auf meiner Brust lastet ein Druck. Ich kann es nicht leugnen. Zehn Tage lang haben wir unter einem Dach gelebt, und du hast kaum gesprochen, Dov. Wie zwei Zeiger einer Uhr bewegen wir uns durch die vierundzwanzig Stunden: Gelegentlich überschneiden wir uns einen Augenblick, dann gehen wir wieder auseinander, jeder für sich allein. Tag für Tag das Gleiche: der Tee, der angebrannte Toast, die Krümel, das Schweigen. Du auf deinem Stuhl, ich auf meinem. Nur heute nicht, als ich nach dem Aufwachen zum ersten Mal im Flur hüstelte, die Küche betrat und niemand da war. Dein Stuhl war leer. Die Zeitung noch in ihrer Hülle draußen vor der Tür.
Ich hatte mir geschworen abzuwarten, bis du bereit wärst, ich wollte dich nicht drängen. Gestern ging ich in den Garten und sah dich dort stehen, eine seltsame Steifheit in deiner Haltung, als hättest du ein hölzernes Tragjoch auf den Schultern, wie die alten Holländer, nur dass es bei dir kein Wasser war, sondern ein Schwall von Gefühlen, den du nicht überschwappen lassen wolltest. Ich versuchte, dich nicht zu stören. Ich fürchtete, das Falsche zu sagen, also habe ich nichts gesagt. Aber ich schwinde dahin, werde jeden Tag ein bisschen weniger. Nur ein ganz kleines bisschen, fast unmerklich, aber trotzdem spüre ich, wie das Leben mir entgleitet. Du brauchst mir nicht zu erzählen, was du mir nicht erzählen willst. Ich werde dich nicht fragen, was vorgefallen ist, warum du dein Richteramt niedergelegt und das Einzige, was dich all die Jahre mit dem Leben verbunden hat, plötzlich aufgegeben hast. Ich kann damit leben, es nicht zu wissen. Aber eins muss ich wissen: warum du zu mir zurückgekehrt bist. Das muss ich fragen. Wirst du mich besuchen, wenn ich einmal gegangen bin? Wirst du hin und wieder kommen und dich zu mir setzen? Es ist absurd, ich werde ein Nichts sein, eine Handvoll leblose Materie, und trotzdem habe ich das Gefühl, es würde mir den Abgang erleichtern, wenn ich wüsste, dass du manchmal vorbeikommst. Dass du gelegentlich den Rand um den Grabstein kehrst, einen Stein aufnimmst,
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