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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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nie aufgegeben habe, dein Vater zu sein, Dovik. Manchmal, wenn ich zur Arbeit fuhr, habe ich laut mit dir gesprochen. Dir Begründungen vorgetragen und mit dir diskutiert. Oder mich mit dir über einen schwierigen Fall beraten. Oder dir einfach von der Plage mit den Blattläusen auf meinen Tomaten erzählt, von dem Omelett, das ich mir eines Morgens in aller Frühe machte, bevor deine Mutter aufgewacht war, und allein in der heiteren Stille unserer Küche aß. Und als sie krank wurde, warst du es, mit dem ich sprach, während ich auf harten Plastikstühlen wartete, bis sie aus irgendeiner Tür von der nächsten Untersuchung, der nächsten Behandlung, dem nächsten Test erschien. Ich machte dich zu meinem kleinen Mann im Kopf und redete, als könntest du mich hören. Beim zweiten Sprengstoffanschlag auf einen Bus der Linie 18 war ich nur zwei Straßenecken weit entfernt. Blut, so viel Blut, Dovi. Die Reste waren überall verstreut. Ich sah, wie der Sondertrupp der Orthodoxen eintraf, wie sie begannen, die zerfetzten Toten einzusammeln, Winzigkeiten mit Pinzetten vom Gehsteig kratzten, auf Leitern stiegen, um einen Fetzen Ohr von einem hohen Ast zu nehmen, den Daumen eines Kindes von einem Balkon zu holen. Danach konnte ich mit niemandem darüber sprechen, nicht einmal mit deiner Mutter, aber ich sprach mit dir. Chesed schel emet, wahre Güte, nennen sie sich, diejenigen, die in Kippot und gelben Leuchtwesten herbeieilen, immer als Erste da, um die Sterbenden während ihres Hinscheidens in der Schockstille zu halten, um das Kind ohne Gliedmaßen zu bergen. Wahre Güte, weil die Toten ihnen diesen Liebesdienst nicht danken können. Ja, mit dir habe ich gesprochen, wenn ich aus Albträumen erwachte. An dich das Wort gerichtet, wenn ich mich beim Rasieren im Spiegel anschaute. Ich fand dich überall, an den unwahrscheinlichsten Orten versteckt, und obwohl ich mich anfangs fragte, wieso, habe ich es bald genug gemerkt: Ich glaubte, dass ich von dir, von deinem Beispiel etwas lernen konnte. Von dir, der du immer so begabt darin warst, aufzugeben, loszulassen, leichter und leichter zu werden, weniger und weniger, um einen Freund nach dem anderen weniger, einen Vater weniger, eine Frau weniger, und jetzt hast du sogar dein Richteramt aufgegeben, es ist fast nichts mehr da, was dich an die Welt bindet, du kommst mir vor wie eine Pusteblume, der nur ein oder zwei Flugschirme geblieben sind, wie einfach wäre es für dich, mit einem kleinen Huster, einem kleinen Seufzer auch den letzten wegzupusten –
    Plötzlich wird mir angst, Dov. Mich fröstelt, eine Kälte zieht mir ins Blut. Diesmal glaube ich ausnahmsweise zu verstehen. Was ich verstehe? Ist es möglich, dass du gekommen bist, um dich noch einmal zu verabschieden? Dass du zu guter Letzt ein Ende setzen willst?
    Warte, Dovik. Geh nicht. Erinnere dich, wie ich dich abends ins Bett brachte, und immer wolltest du noch eine Frage? Wohin geht die Sonne in der Nacht? Was fressen die Wölfe? Warum gibt es mich nur einmal?
    Noch eine Frage, Dovik. Noch ein Lied. Noch fünf Minuten.
    Was würde sie tun?
    Wo bist du? Dein ganzes Leben habe ich danach gefragt.
    Ich ziehe meine Schuhe an. Ich falle auf die Knie. Ich werde es nie mehr erwähnen.
    Ich werde tun, was deine Mutter getan hätte. Ich rufe sämtliche Krankenhäuser an.

Bitte aufstehen
    Euer Ehren, in der dunklen, steinernen Kälte meines Zimmers schlief ich wie vom Taifun gerettet. Eine rastlose Unruhe, die ferne Ahnung irgendeines Unheils flatterte am Rand meiner Träume, aber ich war zu erschöpft, es zu erkunden. Es sammelte und verdichtete sich über die langen Stunden meines Schlafs, bis es mir in dem Augenblick, als ich die Augen öffnete, wie ein fanatischer Schrecken ins Bewusstsein brach. Um Millimeter außerhalb meiner Reichweite erhob sich eine dringende Frage, die eine Antwort brauchte, aber was war die Frage? Ich hatte schrecklichen Durst und suchte im Dunkeln die kleinen Glasflaschen mit kaltem Wasser. Mir fehlte jedes Zeitgefühl, aber durch die Ritze unter den Rollläden sah ich, dass es draußen noch hell oder wieder hell geworden war. Die Frage drängte immer mächtiger nach oben, entzog sich mir jedoch, sobald ich sie zu fassen versuchte. Ich tastete nach dem Schlüssel für die Verandatür und warf dabei eine Flasche um, die auf dem Fußboden zerbrach. Das Schloss klemmte, gab dann aber nach, und die Tür öffnete sich dem blendenden Licht von Jerusalem. Ich schaute auf die alte Stadtmauer, tief bewegt

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