Das große Haus (German Edition)
schließlich eines Tages aufstand und ging, mit seinen ganzen Büchern, seinem traurigen Lächeln, dem Geruch seines Schlafs, seinen Filmkanistern voller ausländischer Münzen und unserem imaginären Kind. Und ich ließ ihn gehen, Euer Ehren, wie ich ihn schon seit Jahren gehen ließ, und sagte mir, ich sei für etwas anderes auserwählt, und tröstete mich mit all der Arbeit, die noch zu tun war, und verlor mich im Labyrinth meiner eigenen Schöpfung, ohne zu merken, dass die vier Wände immer enger, die Luft immer dünner wurden.
Bei Nacht auf hoher See, verlor ich mich tagsüber in der Stadt und fast eine Woche lang in einer Frage, die ebenso wenig zu beantworten war wie die wortlose, durch den Schrei des Entsetzens gestellte Frage des Kindes, nur dass es für mich keinen Trost gab, keine wohltuende, liebende Kraft, um mich aufzufangen und die Dringlichkeit der Frage zu mildern. Jene ersten Tage nach meiner Ankunft in Jerusalem verschmelzen in meinem Gedächtnis zu einer einzigen langen Nacht und einem einzigen langen Tag, und ich erinnere mich nur, dass ich eines Nachmittags im Restaurant des Gästehauses von Mishkenot Sha’ananim saß, mit demselben Ausblick wie von der Veranda vor meinem Zimmer: auf die Stadtmauer, den Zionsberg und das Hinnomtal, wo die Verehrer des Molochs ihre Kinder durch Feuer opferten. In Wirklichkeit hatte ich jeden Tag ein- oder sogar zweimal dort gegessen, weil es einfacher war, als mir in der Stadt etwas zu suchen (je hungriger ich wurde, umso unmöglicher kam es mir vor, ein Restaurant zu betreten) – oft genug, um das Interesse des beleibten Kellners zu erregen. Während er die Krümel von leeren Tischen kratzte, schielte er aus den Augenwinkeln zu mir herüber, und bald gab er es auf, seine Neugierde zu verbergen, stützte sich auf den Bartresen und beobachtete mich. Wenn er kam, um meine Teller abzuräumen, machte er sehr langsam und fragte, ob alles zu meiner Zufriedenheit gewesen sei, womit er weniger das von mir oft unberührte Essen zu meinen schien als andere, weniger greifbare Dinge. An diesem Nachmittag, nachdem sich der Speisesaal geleert hatte, kam er an meinen Tisch und brachte mir einen Ständer mit einer Auswahl unterschiedlicher Teebeutel. Nehmen Sie sich, sagte er. Ich hatte keinen Tee bestellt, aber ich konnte kaum ablehnen. Ich suchte einen aus, ohne richtig hinzuschauen. Ich hatte den Geschmack an allem verloren, und je schneller ich mich entschied, umso eher, dachte ich, würde er mich wieder allein lassen. Aber er ließ mich nicht allein. Er holte eine Teekanne mit heißem Wasser, nahm den Teebeutel eigenhändig aus der Verpackung und hängte ihn hinein. Dann ließ er sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder. Amerikanerin?, fragte er. Ich nickte mit zusammengepressten Lippen, in der Hoffnung, er würde meinen Wunsch, allein zu sein, begreifen. Eine Schriftstellerin, hat man mir gesagt, ja? Ich nickte wieder, wobei mir diesmal ein unfreiwilliges Piepsen über die Lippen schlüpfte. Er goss mir Tee in meine Tasse ein. Trinken Sie, sagte er, das tut Ihnen gut. Ich schenkte ihm ein verspanntes kleines Lächeln, das eher eine Grimasse war. Da drüben, wo Sie eben hingeschaut haben, sagte er und deutete mit einem krummen Finger auf den Ausblick. Das Tal unterhalb der Stadtmauer war früher einmal Niemandsland. Ich weiß, sagte ich, indem ich ungeduldig meine Serviette zusammenknüllte. Er zwinkerte und fuhr fort. Als ich 1950 hierherkam, bin ich immer an die Grenze gegangen, um Ausschau zu halten. Auf der anderen Seite, fünfhundert Meter entfernt, sah ich Busse und Autos, jordanische Soldaten. Ich befand mich in der Stadt, auf der Hauptstraße von Jerusalem, und ich schaute auf eine andere Stadt, ein Jerusalem, von dem ich glaubte, ich würde nie einen Fuß hineinsetzen können. Ich war neugierig, ich wollte wissen, wie war es dort? Aber es war auch etwas Gutes an dem Glauben, dass ich nie auf die andere Seite gelangen würde. Dann kam der Krieg von 1967. Alles änderte sich. Zuerst habe ich es nicht bedauert. Es war aufregend, am Ende doch durch diese Straßen zu gehen. Aber später empfand ich es anders. Ich sehnte mich nach den Tagen zurück, als ich hinüberschaute und nichts wusste. Er machte eine Pause und warf einen Blick auf meine nicht angerührte Tasse. Trinken Sie, drängte er wieder. Eine Schriftstellerin, was? Meine Tochter liest leidenschaftlich gern. Ein schüchternes Lächeln zuckte über seine dicken Lippen. Sie ist siebzehn. Sie lernt
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