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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Adam frei war, und hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen könnte, mich da hinaufzuschwingen. Er reichte mir seine Hand, und ich gab ihm die Linke, die er aber fallen ließ, um mit festem Griff die Rechte zu erfassen und mich mit elegantem und geübtem Schwung hinaufzubefördern, sodass ich mühelos genau richtig zum Sitzen kam. Er zog seinen Helm ab und stülpte ihn, begleitet von demselben unergründlichen Lächeln, das ich am Vorabend gesehen hatte, behutsam über meinen Kopf, indem er mir, um den Riemen festzumachen, sanft das Haar nach hinten strich. Dann nahm er meine Hand und führte sie sicher an seine Hüfte, und das Prickeln, das tief unten im Bauch begonnen hatte, stieg in mir auf und erweckte, ja rüttelte meinen Körper zum Leben. Er lachte mit weit geöffnetem Mund, es kostete ihn nichts, so zu lachen, dann ruckte das Motorrad unter uns und schoss auf die Straße. Er fuhr in Richtung Gästehaus, aber kurz vor der Abzweigung rief er mir nach hinten etwas zu. Was?, schrie ich aus dem gedämpften Inneren des Helms, worauf er etwas anderes rief, von dem ich gerade genug hörte, um zu begreifen, dass es eine Frage war, und als ich nicht rechtzeitig antwortete, ließ er das Gästehaus links liegen und fuhr weiter. Einen Augenblick fragte ich mich düster, ob es naiv gewesen sei, mich in die Hände dieses Störenfrieds zu begeben, der um Rafis Familie herumstrich, aber dann drehte er sich zu mir um und lächelte, und es war Daniel Varsky, der sich umdrehte, ich war wieder vierundzwanzig, und die ganze Nacht lag vor uns – das Einzige, was sich geändert hatte, war die Stadt.
    Ich umklammerte seine Hüften, der Wind packte sein Haar, wir fuhren durch die Straßen, vorbei an den weltentrückten Einwohnern der Stadt, die mir inzwischen recht vertraut waren, den Charedim in ihren staubigen schwarzen Mänteln und Hüten, den Müttern mit Scharen kleiner Kinder, an deren Kleidern Hunderte von losen Fäden hingen, als wären die Kinder selbst unfertig vom Webstuhl gerissen worden, an der Horde Jeschiwa-Jungen, die mit zugekniffenen Augen, wie gerade aus einer Höhle entlassen, an einer Ampel über die Straße stürmten, an dem über seine Gehhilfe gebeugten alten Mann, den eine junge Filipina am Ärmel seiner Strickjacke hielt, aus deren abgewetztem Ellbogen sie ein Garn zog, das sie sich um die Hand wickelte, den ganzen Mann aufribbelte, bis mit einem Pluff der Knoten seiner letzten Worte aus ihm herauskäme, vorbei an ihm, an ihr und an dem Araber, der den Rinnstein kehrte, ohne dass ein Einziger von ihnen merkte, was da auf dem Motorrad vorbeirauschte – eine Erscheinung, Geister, die viel weiter aus der Zeit gefallen waren als sie selbst. Am liebsten wäre ich weitergefahren, in die Wildnis der Wüste, aber bald bogen wir von der Hauptstraße ab und rollten auf einen Parkplatz, der einen weiten Blick nach Norden über die ganze Stadt bot. Adam schaltete den Motor ab, während ich widerstrebend von seinen Hüften abließ und mich zerrend von dem Helm befreite. Als ich an mir heruntersah, auf meine zerknitterte Hose und die staubigen Sandalen, löste sich meine kleine Träumerei in Wohlgefallen auf und machte mich verlegen. Aber Adam schien es nicht zu bemerken, er winkte mir, ihm auf die Promenade zu folgen, wo sich kleine Grüppchen von Touristen und Spaziergängern versammelt hatten, um das spektakuläre Drama des Sonnenuntergangs über Judäa zu beobachten.
    Wir lehnten uns an die Brüstung. Die Wolken färbten sich in Bronze, dann purpurrot. Ist es nicht schön?, sagte er, die ersten seiner Worte an diesem Abend, die ich verstanden hatte. Ich schaute hinaus auf die dichtgedrängten Dächer der Altstadt, den Zionsberg, den Skopusberg im Norden, den Berg des bösen Rats im Westen, den Ölberg im Osten, und vielleicht lag es am Farbenrausch des Lichts oder am auffrischenden Wind, oder an der Erleichterung eines freien Blicks, vielleicht waren es der Pinienduft oder die Ausdünstungen des Gesteins, das die Hitze des Tages abgibt, ehe es die Nacht einsaugt, oder meine Nähe zu dem Geist von Daniel Varsky, aber es berückte mich, Euer Ehren, und spätestens in diesem Moment gesellte ich mich all denen hinzu, die seit dreitausend Jahren nach Jerusalem strömten und bei ihrer Ankunft die Fassung verloren, ihren Geist fahrenließen und der Traum eines Träumers wurden, der versucht, das Licht aus der Finsternis zu ziehen und es in einem zerbrochenen Gefäß wieder zu sammeln. Ich bin gerne hier, sagte er. Manchmal

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