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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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konnte warten, meine Zeit abwarten. Er sang ja, verstehen Sie, und bald würde es Abend werden, und jetzt sah ich, dass etwas anders war, ja, er hatte sich das Haar gewaschen.
    Vor zwei Jahren sei er mit dem Militärdienst fertig gewesen, sagte er. Zuerst hatte er Arbeit bei einer Sicherheitsagentur bekommen, aber der Boss bezichtigte ihn gewisser Dinge (was das war, sagte er nicht), und er wurde vor die Tür gesetzt, dann hatte er mit einem Freund, der einen eigenen Betrieb aufbauen wollte, Häuser angestrichen, aber die Dämpfe nicht vertragen und aufhören müssen. Jetzt arbeitete er in einem Matratzenladen, aber was er sich wirklich wünschte, wäre eine Schreinerlehre, weil er mit den Händen, sagte er, immer gut gewesen sei und gern etwas gestalte. Und Ihre Familie?, fragte ich. Er drückte seine Zigarette aus, blickte fahrig in die Runde, prüfte sein Handy. Er habe keine, sagte er. Seine Eltern seien gestorben, als er sechzehn war. Er sagte nicht, wo oder wie. Er habe einen älteren Bruder, aber seit vielen Jahren nicht mit ihm gesprochen. Manchmal denke er daran, einen neuen Anlauf zu machen, ohne es je zu tun. Und was ist mit Rafi?, fragte ich. Ich sagte Ihnen doch, das ist ein Arschloch, sagte er. Der einzige Grund, warum ich mich mit ihm abgebe, ist Dina. Wenn Sie Dina sähen, Sie könnten sich nicht vorstellen, wie jemand so Schönes von diesem Pavian abstammen soll. Erzählen Sie mir von ihr, sagte ich, aber er sagte nichts und wandte sich ab, um die krampfartige Verzerrung seiner Gesichtszüge zu verbergen, nur den Bruchteil einer Sekunde, in dem sein ganzes Gesicht zusammenfiel und ein anderes zum Vorschein kam, das er schnell mit seinem Ärmel wegwischte. Er stand auf und warf ein paar Münzen auf den Tisch, verabschiedete sich zurufend von der Bedienung, die ihn anlächelte. Bitte, sagte ich, indem ich meine Geldbörse herauszog, lassen Sie mich das machen. Aber er schnalzte mit der Zunge, schwang den Helm und zog ihn sich über den Kopf, und in diesem Moment dachte ich aus irgendeinem Grund an seine tote Mutter, dachte, wie sie ihn als Kind gebadet, ihn mitten in der Nacht aus seinem Gitterbettchen gehoben und seine feuchten Lippen an ihrem Gesicht gefühlt, seine kleinen Finger aus ihrem Haar gelöst, ihm vorgesungen, ihm eine Zukunft erträumt haben musste, aber dann verrutschte die Nadel auf der Platte meines Gedächtnisses, und es war Daniel Varskys Mutter, die ich mir vorstellte: wie spiegelverkehrt war der Sohn tot, während die Mutter lebte. Zum ersten Mal in den siebenundzwanzig Jahren, die ich an seinem Tisch geschrieben hatte, dämmerte mir das Ausmaß ihres Verlusts, ein Fenster ging auf, und ich sah den unsäglichen Albtraum ihres Leidens. Ich stand neben dem Motorrad. Der Wind war still. Ein Hauch Jasmin lag in der Luft. Wie mag es sein, dachte ich, weiterzuleben, wenn das eigene Kind gestorben ist? Ich kletterte auf das Motorrad und nahm Adams Hüften sanft zwischen meine beiden Hände, die jetzt die Hände dieser Mütter waren, der einen, die ihr Kind nicht berühren konnte, weil sie tot war, und der anderen, die es nicht konnte, weil sie weiterlebte, und dann erreichten wir die Ha’Oren-Straße.
    Wir konnten das Haus nicht sofort finden, so zugewachsen war die Nummer von dem wuchernden Wein, der die Mauer rund um das Anwesen bedeckte. Eine Kette verschloss das eiserne Tor, aber dahinter sah man, halb von Bäumen verdeckt, ein großes Steinhaus mit grünen Fensterläden, fast alle zugeklappt. Sich diese junge Frau, Leah, als seine Bewohnerin vorzustellen, verlieh ihr eine ganz neue Dimension, eine Tiefe, die ich nicht gespürt hatte. Während ich in den staubigen Garten spähte, erfüllte mich eine Traurigkeit, wohl aus dem unheimlichen Gefühl heraus, an einem Ort zu sein, den Daniel Varsky, wie indirekt auch immer, berührt hatte: Hier, hinter den geschlossenen Fensterläden, lebte – das vermutete ich zumindest – eine Frau, die ihn gekannt und höchstwahrscheinlich geliebt hatte. Was mochte Leahs Mutter über die Suche ihrer Tochter gedacht, was mochte sie empfunden haben, als man ihr den Schreibtisch jenes Mannes, des Vaters ihres Kindes, der so brutal aus der Welt gerissenen worden war, wie einen riesigen hölzernen Leichnam nach Hause gebracht hatte? Und als wäre es damit nicht genug, stand ich jetzt vor der Tür, um seinen Geist nachzuliefern. Ich überlegte, ob ich nicht eine Entschuldigung erfinden, Adam sagen sollte, ich hätte mich vertan, dies sei nicht der richtige

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