Das große Haus (German Edition)
war, nach einem Vierteljahrhundert plötzlich unversehrt aus seinem Versteck in den unterirdischen Gängen des Bar Kochba aufgetaucht wäre. Mich durchzuckte ein brennender Schmerz, der mir den Atem stocken ließ. Der Kellner schaute über die Schulter zurück. Als er mich sah, wandte er sich wieder dem Motorradfahrer zu und stieß wie zur Warnung ein paar schnelle Worte aus, dann näherte er sich mir. Hallo, Miss, möchten Sie etwas bestellen? Nehmen Sie bitte Platz, ich bringe Ihnen die Karte. Nein, sagte ich, unfähig, meine Augen von dem rittlings auf dem Motorrad sitzenden jungen Mann abzuwenden, dessen Lippen sich jetzt zu einem verschmitzten kleinen Grinsen verzogen. Ich wollte Ihnen das nur bringen, sagte ich und streckte ihm das Buch entgegen. Der Kellner wich einen Schritt zurück, hob mit übertrieben gespielter Überraschung die Hand an den Mund, kam auf mich zu, als wollte er das Buch nehmen, zog die Hand aber wieder zurück und rieb sich, abermals im Rückwärtsgang, die Bartstoppeln an den Kinnbacken. Das darf doch nicht wahr sein, sagte er, haben Sie wirklich eins gebracht? Ich kann’s nicht glauben. Hier, sagte ich und drückte ihm das Buch in die Hand, für Dina. Jetzt weiteten sich die Nasenflügel des jungen Mannes, als hätte er etwas gerochen. Sie kennen Dina? Der Kellner drehte sich um und warf ihm ein paar weitere scharfe Worte zu. Kümmern Sie sich nicht um ihn, er geht schon. Kommen Sie, setzen Sie sich, wie kann ich Ihnen danken, trinken Sie doch einen Tee. Aber der junge Mann machte keine Anstalten zu gehen. Was ist das?, fragte er. Was das ist, fragt er, hören Sie sich das an, was für ein Barbar, ein Buch ist das, wahrscheinlich hat er nie eins gelesen, und jetzt spuckte er in verändertem Ton ein paar Worte in Richtung des Fahrers, der, einen Fuß auf dem Pedal, den anderen auf der Straße, das Motorrad im Gleichgewicht hielt. Haben Sie es geschrieben?, fragte der junge Mann unerschüttert. Ein Duft erfüllte die Abendluft, als hätte sich irgendwo eine Nachtblüte geöffnet. Ja, das habe ich, sagte ich, als ich im letztmöglichen Moment meine Stimme wiederfand. Entschuldigen Sie, Miss, warf der Kellner ein, er belästigt Sie, kommen Sie rein, drinnen ist es ruhiger, aber jetzt klappte der Fahrer mit dem Hacken den Motorradständer aus, und in drei Sätzen war er bei uns. Aus der Nähe erschien er nicht weniger als das Ebenbild Daniel Varskys, so ähnlich, dass ich mich fast wunderte, wieso er mich nicht wiederzuerkennen schien, ungeachtet der vielen Jahre, die vergangen waren. Darf ich mal sehen?, fragte er. Hau ab hier, knurrte der Kellner und hielt das Buch auf Abstand, aber der junge Mann war nicht nur schnell, sondern auch einen Kopf größer als der kleine untersetzte Kellner, und im Nu hatte er es ihm aus der Hand geschnappt. Vorsichtig klappte er den Deckel auf, blickte von mir zu dem Kellner und dann wieder auf das Buch. Für Dina, las er laut, mit besten Wünschen und viel Glück! Ihre Nadia. Sehr hübsch, sagte er. Ich werde es ihr geben.
Daraufhin ließ der Kellner einen ganzen Schwall wütender Worte los, seine Halsadern pochten und schwollen an, als wären sie kurz vor dem Platzen, und der junge Mann wich einen Schritt zurück, ein Anflug von Traurigkeit zuckte über sein Gesicht, nur ein winziges Beben, aber ich sah es. Mit zarten Fingern blätterte er in aller Ruhe die Seiten durch. Dann gab er es schließlich, ohne die ausgestreckte Hand des Kellners zu beachten, mir zurück. Offenbar bin ich hier nicht willkommen, sagte er. Vielleicht erzählen Sie mir irgendwann, was drinsteht – ein Lächeln trat auf seine Lippen –, Nadia. Es würde mich freuen, flüsterte ich, und im Zimmer meines Lebens öffnete sich eine Tür. Ohne den Kellner eines Blicks zu würdigen, stülpte er sich den Helm über den Kopf, stieg auf seine Maschine, ließ den Motor an und entschwand in der Dunkelheit.
Einen Augenblick später saß ich an einem Tisch, der Kellner umschwirrte mich und legte ein Gedeck aus. Ich weiß gar nicht, wie ich mich entschuldigen soll, sagte er, dieser Junge ist ein Fluch. Ein Cousin meiner Frau, ein Störenfried, bei dem wird nichts Gutes herauskommen. Aber seine Eltern sind gestorben, er hat niemanden mehr, da kommt er zu uns. Er lungert herum, und wir können ihn nicht wegschicken. Wie heißt er?, fragte ich. Der Kellner schaute mein Glas an, hielt es ins Licht, entdeckte etwas Schmieriges und tauschte es gegen ein Glas vom Nachbartisch aus. Was für ein
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