Das große Haus (German Edition)
Aber in dieser Nacht kam er nicht, und morgens schwamm eine tote Fliege mit dem Bauch nach oben in der Milch. Sobald es neun Uhr war, nahm ich unser altes, mit Lottes Handschrift gefülltes Adressbuch und suchte Gottliebs Nummer heraus. Er antwortete gut gelaunt. Ich erzählte ihm von meinem Ausflug in den Brecon-Beacons-Nationalpark, sagte aber nichts von dem Feuer; ich glaube, ich wollte die Stille, die es umgab, nicht stören oder es nicht verraten, indem ich eine Geschichte daraus machte. Ich fragte, ob ich vorbeikommen dürfe, um persönlich mit ihm zu sprechen, er zeigte sich begeistert, rief seine Frau, und nach einer Pause mit abgedämpftem Hörer lud er mich für nachmittags zum Tee ein.
Ich verbrachte den Morgen damit, Ovid zu lesen. Ich las jetzt anders, sorgfältiger, in dem Bewusstsein, den Büchern, die ich liebte, wahrscheinlich zum letzten Mal so nahe zu sein. Um kurz nach drei ging ich los, durchs Heath zum Well Walk, wo Gottlieb wohnte. Die Fenster waren mit Papierschnitten seiner Enkelkinder dekoriert. Als er die Tür öffnete, hatte er hochrote Wangen, und das Haus verströmte einen Geruch von Nelkenpfeffer, wie die kleinen Duftsäckchen, die Frauen gern in die Schubladen mit ihrer Unterwäsche legen. Wie schön, dass du kommst, Arthur, sagte er, indem er mir auf den Rücken klopfte, und führte mich in einen sonnigen Raum neben der Küche, wo der Tisch schon für den Tee gedeckt war. Lucie kam herein, um mich zu begrüßen, und wir unterhielten uns über ein Stück, das sie am Vorabend im Barbican gesehen hatte. Dann entschuldigte sie sich, sie müsse eine Freundin besuchen, und ließ uns allein. Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, nahm Gottlieb seine Brille aus einem kleinen Lederetui und setzte sie auf – eine Brille, die seine Augen um ein Vielfaches vergrößerte, wie die Augen eines Koboldäffchens. Dass du mich besser sehen kannst, dachte ich unwillkürlich, oder gar durch mich hindurch.
Was ich dir erzählen will, wird dich sicher überraschen, begann ich. Es hat mich selbst überrascht, als ich es ein paar Monate vor Lottes Tod entdeckte. Seitdem habe ich mich nicht besser an den Gedanken gewöhnt, dass die Frau, mit der ich fast fünfzig Jahre zusammengelebt habe, fähig war, mir etwas so Ungeheuerliches zu verbergen, ein Geheimnis, das all diese Jahre, daran habe ich keinen Zweifel, ein lebhafter und quälender Teil ihres Innenlebens gewesen sein muss. Es ist wahr, sagte ich zu Gottlieb, Lotte sprach selten über ihre in den Lagern ermordeten Eltern oder über ihre Kindheit, als sie aus Nürnberg deportiert worden war. Dass sie eine Fähigkeit, ja sogar ein Talent zum Schweigen an den Tag legte, hätte mir vielleicht eine Warnung sein müssen, dass es möglicherweise noch andere Kapitel ihres Lebens gab, die sie mir lieber vorenthalten, wie ein Schiffswrack tief in ihrem Inneren versinken lassen wollte. Aber schau, die Sache mit dem Schicksal ihrer Eltern und der Verlust ihrer früheren Welt waren mir bekannt. Sie hatte es verstanden, mir diese albtraumhaften Teile ihrer Vergangenheit zu einem recht frühen Zeitpunkt unserer Beziehung in Form eines Schattenspiels mitzuteilen, ohne je näher darauf einzugehen oder zu viel davon preiszugeben, und zugleich hatte sie mir klargemacht, ich dürfe nicht erwarten, dass diese Dinge je zum Gesprächsthema gemacht würden, weder von ihr noch von mir. Dass ihre geistige Gesundheit, ihre Fähigkeit, weiterzumachen mit dem Leben, ihrem eigenen ebenso wie dem, das wir uns gemeinsam geschaffen hatten, von ihrer Fähigkeit und von meinem feierlichen Einverständnis abhing, diese albtraumhaften Erinnerungen vollständig abzuriegeln, sie schlafen zu lassen wie Wölfe in einer Höhle, und nichts zu tun, was sie aus dem Schlaf schrecken könnte. Dass sie diese Wölfe in ihren Träumen besuchte, dass sie sich zu ihnen legte und sogar über sie schrieb, wenn auch in verwandelter Gestalt, wusste ich nur allzu gut. Ich war ein Beteiligter, wenn nicht gar gleichgestellter Partner ihres Schweigens. Und in diesem Sinne war es nicht das, was man ein Geheimnis nennen würde. Ich muss aber auch sagen, dass ich trotz meiner Einwilligung in diese Bedingungen und meines Wunsches, Lotte zu beschützen, trotz des zärtlichen Verständnisses und Mitgefühls, die ich ihr immer zu zeigen versuchte, und trotz meiner Schuldgefühle deswegen, ein behütetes Leben ohne solche Qualen und Leiden gelebt zu haben, nicht immer über jeden Verdacht erhaben war. Ich
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