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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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ersten Mal seit Wochen sah ich eine glückliche Röte auf ihren Wangen. In der folgenden Nacht bekam sie sehr hohes Fieber und Atemnot. Ihre gesundheitliche Verfassung war labil, und sie wirkte schon sehr gebrechlich; in ihrem letzten Lebensjahr war sie sprunghaft gealtert. Ich rief unseren Doktor an, der zu einem Hausbesuch kam. Ein paar Stunden später hatte sich ihr Zustand so verschlechtert, dass wir sie ins Krankenhaus brachten. Die Lungenentzündung hat unvermittelt zugeschlagen und sie überwältigt. In ihren letzten Stunden flehte sie, man möge sie sterben lassen. Die Ärzte taten alles, was in ihren Kräften stand, um sie zu retten, aber als nichts mehr zu machen war, ließen sie uns in Ruhe. Ich kletterte zu ihr auf das schmale Bett und streichelte ihr Haar. Ich dankte ihr für das Leben, das sie mit mir geteilt hatte. Ich sagte ihr, niemand könne glücklicher sein, als wir es miteinander gewesen waren. Ich erzählte ihr noch einmal die Geschichte, wie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Bald darauf verlor sie das Bewusstsein und glitt hinüber.
    Ungefähr vierzig Menschen versammelten sich an dem Nachmittag, als ich sie begrub, auf dem Highgate Cemetery. Vor langer Zeit hatten wir beschlossen, dass wir dort zusammen begraben werden wollten, wo wir so viele Male die überwucherten Wege entlanggegangen waren und die Namen auf den umgekippten Grabsteinen gelesen hatten. An jenem Morgen war ich durcheinander und nervös. Erst als der Rabbi das Kaddisch zu sprechen begann, wurde mir bewusst, dass ich irgendwie glaubte, ihr Sohn sei vielleicht anwesend. Warum sonst hatte ich die kleine Anzeige in die Zeitung gesetzt? Lotte hätte das sicher missbilligt. Genau das verstand sie unter Privatleben. Mit tränenverschleierten Augen suchte ich die Bäume nach einer in der Landschaft versteckten Gestalt ab. Ohne Hut. Ohne Mantel vielleicht. Flüchtig angedeutet, wie die großen Meister manchmal ein verstecktes Selbstporträt in eine dunkle Ecke der Leinwand malten oder unauffällig in einer Menge verbargen.
    Drei oder vier Monate nachdem Lotte gestorben war, begann ich wieder zu reisen, wie ich es in der Zeit ihrer Krankheit nicht mehr hatte tun können. Meistens in England oder Wales, und immer mit dem Zug. Ich liebte Gegenden, wo ich von Dorf zu Dorf wandern, jeden Abend an einem anderen Ort bleiben konnte. So unterwegs, nur mit einem kleinen Rucksack, empfand ich ein Gefühl von Freiheit, wie ich es viele Jahre nicht erlebt hatte. Freiheit und Frieden. Mein erster Ausflug führte in den Lake District. Einen Monat danach fuhr ich nach Devon. Von dem Dorf Tavistock brach ich quer durch die Landschaft von Dartmoor auf und verlief mich, bis ich in der Ferne die Schornsteine des Gefängnisses aufragen sah. Noch einmal zwei Monate später nahm ich einen Zug nach Salisbury, um Stonehenge zu besichtigen. Ich stand mit den anderen Touristen unter dem gewaltigen grauen Himmel und stellte mir die Neolithiker vor, jene Männer und Frauen, deren Leben so häufig durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Schädel ein Ende genommen hatte. Auf dem Boden lagen verstreute Abfälle, metallisch glänzende Verpackungen und solche Sachen. Ich ging herum, um das Zeug einzusammeln, und als ich mich wieder aufrichtete, waren die Steine noch größer und noch furchterregender als zuvor. Ich fing auch wieder an zu malen, das Hobby meiner jungen Jahre, das ich aufgegeben hatte, als ich merkte, dass es mir an Talent fehlte. Aber Talent, das man als junger Mensch verehrt, weil es einem so viel verheißt, schien am Ende völlig unwichtig zu sein: Nichts konnte mir jetzt noch verheißen werden, und ich hätte es mir auch nicht gewünscht. Ich kaufte mir eine kleine, zusammenklappbare Staffelei, die ich mit auf Wanderschaft nahm, und wann immer mir ein besonderer Blick auffiel, klappte ich sie auseinander. Manchmal blieb jemand stehen, schaute zu, und wir kamen miteinander ins Gespräch, wobei für mich, wenn ich es recht bedachte, keinerlei Notwendigkeit bestand, diesen Leuten die Wahrheit über mich zu erzählen. Ich sagte, ich sei ein Landarzt aus der Umgebung von Hull oder ein Pilot, der in der Luftschlacht um England eine Spitfire geflogen habe, und während ich es sagte, sah ich tatsächlich auf das Muster von Feldern herab, das sich in alle Richtungen nach außen öffnete, wie ein Kode. Es war nichts Hinterhältiges daran, nichts, was ich verbergen wollte, sondern einfach ein gewisses Vergnügen, aus mir herauszuschlüpfen und momentan

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