Das große Haus (German Edition)
Objekt, das jederzeit seinen Buckel anbietet, damit der Besitzer es benutzen kann, und das, wenn es gerade nicht gebraucht wird, bescheiden den ihm zugewiesenen Raum einnimmt. Nun, sagte ich zu Gottlieb, dieses Bild kannst du einfach streichen. Lottes Tisch war etwas ganz und gar anderes: ein riesiges, bedeutungsträchtiges Ding, das die Bewohner des Zimmers, in dem er stand, bedrückte, sich als unbelebt ausgab, sich aber ständig wie eine Venusfliegenfalle in Bereitschaft hielt, über sie herzufallen und sie via einer seiner schrecklichen kleinen Schubladen zu verdauen. Vielleicht hältst du meine Beschreibung für eine Karikatur. Ich würde es dir nicht verdenken. Man muss diesen Tisch mit eigenen Augen gesehen haben, um zu begreifen, dass das, was ich darüber sage, absolut korrekt ist. Er nahm fast die Hälfte des Zimmers ein, das Lotte damals gemietet hatte. Als sie mir zum ersten Mal erlaubte, die Nacht mit ihr in dem armseligen kleinen Bett zu verbringen, das sich in den Schatten des Schreibtisches duckte, wachte ich in kalten Schweiß gebadet auf. Dräuend erhob er sich über uns, eine dunkle, ungestalte Form. Einmal habe ich geträumt, ich hätte eine seiner vielen Schubladen geöffnet und eine verfaulende Mumie darin gefunden.
Sie sagte nur, er sei ein Geschenk gewesen; es gab keinen Bedarf, vielleicht sollte ich besser sagen, sie sah keinen Bedarf oder widersetzte sich dem Bedarf, mir zu sagen, von wem. Ich hatte keine Ahnung, was aus dem Mann geworden war. Ob er ihr das Herz gebrochen hatte oder sie ihm seines, ob er endgültig weg war oder ob die Möglichkeit bestand, dass er doch noch wiederkäme, ob er am Leben war oder tot. Ich war überzeugt, dass sie ihn mehr geliebt hatte, als sie mich je lieben würde, und dass irgendein unüberwindliches Hindernis zwischen sie getreten war. Es zerriss mich. Ich sah Gespenster, phantasierte, ihm auf der Straße zu begegnen. Manchmal dichtete ich ihm ein Hinkebein oder einen schmutzigen Kragen an, nur damit er mich in Ruhe ließ und ich ein bisschen Schlaf fand. Das Geschenk dieses Tisches kam mir vor wie ein grausamer Geniestreich dieses Mannes – eine Art, seinen Anspruch festzuschreiben, sich in Lottes unerreichbare Welt der Imagination einzuschleichen, auf dass er sie besitze, auf dass sie sich jedes Mal, wenn sie sich zum Schreiben daran niederließ, seiner Schenkung inne sei. Manchmal rollte ich mich im Dunkeln auf die andere Seite und sah der schlafenden Lotte ins Gesicht: Entweder er oder ich, sagte ich dann im Geiste. Während dieser langen, kalten Nächte in ihrem Zimmer machte ich in Gedanken keinen Unterschied zwischen ihm und dem Tisch. Aber ich brachte nie den Mut auf, es zu sagen. Stattdessen schob ich eine Hand unter ihr Nachthemd und streichelte ihre warmen Oberschenkel.
Am Ende löste sich alles in Rauch auf, sagte ich zu Gottlieb, oder jedenfalls fast. Mit jedem Monat, der verging, wurde ich mir der Gefühle, die Lotte für mich empfand, sicherer. Ich fragte sie, ob sie mich heiraten wolle, und sie sagte ja. Er, wer immer er sein mochte, gehörte ihrer Vergangenheit an und war, wie der Rest, unwiederbringlich in ihren dunklen Tiefen versunken. Wir lernten, einander zu vertrauen. Und für den allergrößten Teil unserer fünfzig Jahre erwies sich der Verdacht, den ich manchmal hegte, die lächerliche Vorstellung, Lotte könnte mich mit einem anderen betrügen, als unbegründet. Ich glaube nicht, dass sie fähig war, irgendetwas zu tun, was unser so sorgfältig miteinander aufgebautes Heim gefährdet hätte. Ich denke, sie wusste, dass sie in einem anderen Leben, einem Leben mit unbekanntem Ablauf, nicht hätte überleben können. Ich glaube auch nicht, dass ihr danach zumute war, mich zu verletzen. Am Ende verpufften meine Zweifel stets von selbst, ohne die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung, und in meinem Geist wurde alles wieder so, wie es immer gewesen war.
Erst in den letzten Monaten ihres Lebens, sagte ich zu Gottlieb, habe ich entdeckt, dass es etwas Ungeheuerliches gab, das Lotte all die langen Jahre vor mir geheim gehalten hat. Ich erfuhr es fast zufällig, und seither ist mir oft durch den Kopf gegangen, wie nahe sie daran war, ihr Geheimnis bis zum Ende zu bewahren. Dennoch tat sie es nicht, und obwohl ihre Geisteskräfte nachließen, bin ich irgendwie davon überzeugt, dass sie sich bewusst entschieden hat, es nicht zu tun. Sie wählte eine Form des Geständnisses, die zu ihr passte, die in ihrem getrübten Zustand eine Art
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