Das große Haus (German Edition)
jemand anders zu werden, und dann noch ein anderes Vergnügen, wenn ich den Rücken des Fremden in der Ferne entschwinden sah und wieder in mich selbst zurückschlüpfte. Etwas Ähnliches empfand ich manchmal nachts, wenn ich in irgendeinem Bed and Breakfast aufwachte und einen Augenblick nicht wusste, wo ich war. Bis meine Augen sich so weit angepasst hatten, dass ich die Umrisse der Möbel erkennen konnte oder mir irgendeine Einzelheit vom Vortag wieder einfiel, schwebte ich im Unbekannten, jenem Grenzbereich, der, noch lose mit dem Bewusstsein verbunden, so leicht ins Unkennbare übergeht. Nur den Bruchteil einer Sekunde – ein Bruchteil reiner, monströser Existenz ohne jeden Anhaltspunkt, eines rauschhaften Schreckens, fast unmittelbar ausgestanzt durch einen Ausreißer der Realität, die mir in solchen Momenten vorkam, als machte sie blind, wie ein Hut, der einem über die Augen gezogen wird, denn obwohl ich wusste, dass das Leben ohne sie fast unbewohnbar wäre, haderte ich doch mit ihr, dass sie mir so viel vorenthielt.
Einmal, in einer solchen Nacht, in der ich wach wurde, ohne mich zu erinnern, wo ich war, schrillte ein Alarm. Oder vielmehr war es der Alarm, der mich geweckt hatte, wenngleich zwischen dem Moment, in dem ich aus dem Schlaf gerissen wurde, und der ersten Wahrnehmung dieses ohrenzerfetzenden Geräuschs ein Übergang gewesen sein musste. Ich sprang aus dem Bett und fegte mit dem Arm die Nachttischlampe auf den Fußboden. Ich hörte die Glühbirne zersplittern, und da fiel mir ein, dass ich mich im Brecon Beacons National Park in Wales befand. Etwas wie beißender Rauch lag in der Luft, während ich nach dem Lichtschalter tastete und meine Kleider überzog. Der Brandgeruch im Flur war überwältigend, ich hörte Schreie aus dem Innersten des Hauses. Irgendwie fand ich die Treppe. Auf dem Weg nach unten traf ich andere, die mit dem Anziehen unterschiedlich weit gekommen waren. Eine Frau hielt ein Kind mit nackten Füßen, das vollkommen reglos war, still und stumm wie das Auge eines Sturms. Draußen hatte sich eine kleine Gruppe auf der Grünfläche vor dem Haus versammelt, manche mit verklärt nach oben gewandten und vom Feuer erleuchteten Gesichtern, andere, die sich vor Husten krümmten. Erst als ich ihren Kreis erreicht hatte, drehte ich mich um. Die Flammen wüteten schon auf dem Dach und schlugen aus den Fenstern der obersten Etage. Das Gebäude musste über hundert Jahre alt sein, ein Pseudo-Tudor mit großen Deckenbalken, die dem Hotelprospekt zufolge aus den Masten eines alten Handelsschiffs bestanden. Es brannte wie Zunder Das teilnahmslose Kind schaute ruhig zu, den Kopf an die Schulter seiner Mutter gelehnt. Der Nachtportier erschien mit einer Gästeliste und begann einen Namensaufruf. Die Mutter des Kindes antwortete auf den Namen Auerbach. Ich fragte mich, ob sie Deutsche sei, vielleicht sogar Jüdin. Sie war allein, kein Mann oder Vater in der Nähe, und einen Augenblick, während die Flammen wüteten, die Feuerwehrmänner mit ihren Löschzügen anrückten und meine Habseligkeiten, die Staffelei und meine Farben und was ich an Kleidung dabeihatte, in Rauch aufgingen, stellte ich mir vor, der Frau meine Hand auf die Schulter zu legen und sie mit ihrem Kind von dem brennenden Haus wegzuführen. Ich malte mir aus, wie sie mich anschaute, ihr dankbares Gesicht und den friedlichen Ausdruck des sich fügenden Kindes, beide gewahr, dass meine Taschen voller Brotbröckchen waren und ich sie hinfort von Wald zu Wald führen, sie beschützen und für sie sorgen würde, als wären sie meine eigenen. Aber diese heldenhafte Phantasie wurde unterbrochen von einer raunenden Erregung, die durch die Gruppe zog: Ein Gast fehlte. Der Portier ging die Liste noch einmal durch, rief jeden Namen mit lauter Stimme, und jetzt verstummten alle, berührt vom Ernst der gegenwärtigen Aufgabe und dem Glück ihrer eigenen Rettung. Als der Portier den Namen Rush aufrief, antwortete niemand. Ms. Emma Rush, rief er noch einmal, aber die Antwort war Schweigen.
Erst nach langem Warten war das Feuer vollständig gelöscht, und ihre Leiche wurde gefunden, mit einer schwarzen Plane bedeckt zur Einfahrt gebracht. Sie war aus dem obersten Stock gesprungen und hatte sich das Genick gebrochen. Nur einer der Gäste erinnerte sich an sie und beschrieb sie als eine Frau mittleren Alters, die immer mit einem Fernglas herumgelaufen war, das sie wahrscheinlich benutzt hatte, um in den Tälern, Schluchten und Wäldern des
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