Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
Briefmarke: An der nächsten Ampel links abbiegen! Links, links, links! Verdammtes Luder, du kannst mich mal, ich fahre rechts ab. Ja, Uri kam und wusste Bescheid, mit welchem Knopf man sie zum Schweigen brachte, damit ich wieder in Frieden durch die Landschaft kutschieren konnte. Als deine Mutter krank wurde, war es Uri, der sie zweimal in der Woche zur Chemotherapie fuhr. Und du, mein Sohn? Wo warst du die ganze Zeit? Also sag mir, warum zum Teufel hätte ich dich zuerst anrufen sollen?
    Geh im Haus vorbei, sagte ich zu ihm, und hol das rote Kostüm deiner Mutter. Dad, sagte er, und seine Stimme fiel ab wie ein vom Dach gelassener Flor. Das rote, Uri, mit den schwarzen Knöpfen. Nicht das mit den weißen, das ist wichtig. Es müssen die schwarzen sein. Warum unbedingt die? Weil Kleinigkeiten große Freude machen. Nach einem Schweigen: Aber Dad, sie wird nicht in Kleidern begraben. Uri und ich blieben die ganze Nacht bei ihrem Leichnam. Während du in Heathrow auf einen Flug gewartet hast, hielten wir Totenwache bei der Frau, die dich auf diese Welt brachte, die Angst hatte zu sterben, um dich nicht mit mir alleinzulassen.
     
    Erklär es mir nochmal, sagte ich. Weil ich verstehen will. Du schreibst und radierst aus. Und das nennst du einen Beruf? Und du in deiner unendlichen Weisheit, du sagtest: Nein, ein Leben. Ich lachte dir ins Gesicht. Ins Gesicht, mein Junge! Ein Leben!, und dann verschwand das Lachen von meinen Lippen. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Der Held deiner eigenen Existenz? Du sacktest in dich zusammen. Zogst den Kopf ein wie eine kleine Schildkröte. Erzähl’s mir, sagte ich, ich wüsste es wirklich gern. Wie fühlt es sich an, du zu sein?
     
    Zwei Nächte bevor deine Mutter starb, setzte ich mich hin, um ihr einen Brief zu schreiben. Ich, der das Briefeschreiben hasst, der lieber zum Telefon greift, um das Meinige zu sagen. Ein Brief hat keine Lautstärke, und ich bin einer, der Lautstärke braucht, um sich verständlich zu machen. Aber gut, es gab keine Leitung, um deine Mutter zu erreichen, oder vielleicht war noch eine Leitung da, aber kein Telefon am anderen Ende. Oder ein endloses Klingeln und niemand, der abnahm, Herrgott, mein Junge, es reicht mit den beschissenen Metaphern. Ich setzte mich also in die Krankenhaus-Cafeteria, um ihr einen Brief zu schreiben, weil es Dinge gab, die ich ihr noch sagen wollte. Ich bin kein Mann mit romantischen Vorstellungen über die Erweiterung des Geistes, wenn der Körper versagt, ist es aus, vorbei, Vorhang, Schluss. Trotzdem hatte ich beschlossen, den Brief mit ihr zu begraben. Ich borgte mir einen Stift von der übergewichtigen Schwester und setzte mich unter die Poster von Machu Picchu, der Chinesischen Mauer und den Ruinen von Ephesos, als wäre ich da, um deine Mutter an einen fernen Ort und nicht ins Nirgendwo zu schicken. Eine Trage ratterte vorbei, die Halbtote darauf kahl und zusammengeschrumpft, ein Bündel Knochen, das im Vorbeirollen ein Auge öffnete, in dem das ganze Empfinden versammelt war, und mich mit seinem Blick fixierte. Ich wandte mich wieder dem Papier vor mir zu. Liebe Eve! Aber danach – nichts. Plötzlich war es unmöglich, noch ein einziges Wort zu schreiben. Ich weiß nicht, was schlimmer war, die Bitte dieses jammervollen kleinen Auges oder der Vorwurf der leeren Seite. Wenn ich daran denke, dass du einmal von Worten leben wolltest! Gott sei Dank habe ich dich davor bewahrt. Jetzt magst du ein großer Macher sein, aber ich bin derjenige, dem du zu danken hast.
    Liebe Eve , dann nichts. Die Wörter verdorrten wie Laub und verwehten. Die ganze Zeit, während sie bewusstlos dagelegen und ich neben ihr gesessen hatte, waren sie in meinem Kopf so klar gewesen, die vielen Dinge, die ich ihr noch sagen musste. Ich hatte Reden geschwungen, mich ausgelassen, alles im Kopf. Aber jetzt schien jedes Wort, das ich ans Licht beförderte, leblos und falsch. Ich wollte gerade aufgeben, das Papier zu einem Ball zuammenknüllen, da fiel mir ein, was Segal mir einmal erzählt hat. Avner Segal, erinnerst du dich, mein alter Freund, der in viele unbekannte Sprachen übersetzt wurde, aber nie ins Englische, und darum immer arm geblieben ist? Vor ein paar Jahren haben wir uns in Rehavia zum Essen getroffen. Ich war überrascht, wie alt er in den paar Jahren geworden war, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Sicher dachte er von mir das Gleiche. Früher hatten wir Seite an Seite bei den Hühnern gearbeitet, voller Ideale von Solidarität.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher