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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Abraham und der Widder. Wie viele Minuten ich verstreichen, dich in die Hosen machen ließ, einen zehnjährigen Jungen, dem plötzlich die Augen aufgehen, wie winzig, wie hilflos er ist, dem Albtraum seines völligen Alleinseins ausgesetzt – ich weiß es nicht. Aber erst als ich beschloss, dass du deine Lektion gelernt hattest, dass dir klargeworden sei, wie sehr du mich brauchtest, tauchte ich hinter dem Felsen auf und schlenderte den Weg hinunter. Beruhig dich, sagte ich, was schreist du so, ich musste nur mal pinkeln.
    Ja, das fiel mir plötzlich ein, als ich dich siebenunddreißig Jahre später durch das Klofenster beobachtete. Es ist ein Trugschluss, wenn man glaubt, die heftigen Gefühle der Jugend besänftigten sich mit der Zeit. Falsch. Man lernt sie zu kontrollieren und zu unterdrücken. Aber sie werden nicht weniger. Sie verstecken sich nur und konzentrieren sich an geheimeren Orten. Wenn man zufällig in einen dieser Abgründe stolpert, ist der Schmerz spektakulär. Ich finde diese kleinen Abgründe jetzt überall.
    Du hast zwanzig Minuten lang nicht aufgehört zu rufen. Auch die Kinder wurden mit herangezogen, durch ein Real-Life-Geheimnis, sogar durch einen Notfall, wenn sie Glück hatten, vom Fernseher gelockt. Durchs Fenster sah ich das Kleinste meinen Pullover über den Rasen schleifen. Sicher für die Hunde, um eine Duftspur zu legen. Sie sind alle so gescheit, die Großneffen und Großnichten. Mit ihrem versammelten Wissen könnte man ein kleines Land des Schreckens regieren. Sie sprechen voller Selbstvertrauen; sie kennen die Zauberformel. Ich war das Afikomen, das sie suchten. Ein paar Minuten gespielt, dann hörte ich die Meute an der Tür kratzen. Wir wissen, dass du drin bist, riefen sie. Mach auf, sagte eine heisere kleine Stimme, und der Rest brüllte mit, ihre kleinen Fäuste ließen einen Trommelregen niedergehen. Ich hatte mir einen riesigen blauen Flecken am Knie zugezogen, konnte mich aber nicht erinnern, wo er hergekommen war. Ich bin in dem Alter, wo blaue Flecken eher durch innere Schwächen entstehen als durch äußere Verletzungen. Uri kam und pfiff die Bestien zurück. Dad?, sagte er durch die Tür. Was machst du dadrinnen? Ist alles in Ordnung? Auf die Frage gab es viele Antworten, aber keine genügte. Hast du kein Klopapier?, piepste eine Kinderstimme. Eine Pause, sich entfernende Schritte, die dann zurückkehrten. Kurze Kampfgeräusche am Griff, und ehe ich mich vorbereiten konnte, ruckelte die Tür und sprang auf. Die Menge glotzte mich an. Unter den Kindern Gekicher und vereinzelter Applaus. Die Kleinste, meine kleine Cordelia, kam näher und betastete den Bluterguss an meinem Knie. Die anderen wichen mit Recht zurück. In Uris Gesicht sah ich eine Angst, die ich nicht von ihm kannte. Beruhig dich, mein Sohn, ich musste nur mal pinkeln.
     
    Nein, ich bin kein Mann mit romantischen Vorstellungen über die Erweiterung des Geistes. Das ist etwas, was ich meinen Söhnen mit auf den Weg gegeben zu haben meine: dass man an der physischen Welt teilnehmen soll, solange sie einem gegeben ist, weil das ein Sinn des Lebens ist, den niemand bestreiten kann. Schmecken, fühlen, einatmen, essen und sich vollstopfen – der ganze Rest, alles, was Geist und Seele betrifft, lebt im Schatten des Ungewissen. Aber dir ist die Lektion nicht leichtgefallen, und am Ende hast du sie nie akzeptiert. Du hast dich ins eigene Fleisch geschnitten und dann Jahre damit verbracht, dir die Schmerzen zu erklären. Es war Uri, der sich meine Lektionen über den gesunden Appetit zu eigen gemacht hat. Bei Uri kannst du fast zu jeder Tages- oder Nachtzeit an die Tür klopfen, er antwortet immer mit vollem Mund.
     
    Abends, nachdem die Gäste gegangen waren und kübelweise Essen zurückgelassen hatten, verkrustenden Humus, Eiersalat, stinkenden Weißfisch und Pita, die vor unseren Augen trocken wurde, sah ich dich und Uri mit zusammengesteckten Köpfen in der Küche. Du hattest ihm allein die Bürde deiner alternden Eltern überlassen – uns hierhin und dorthin zu chauffieren, die Zeit in Wartezimmern mit uns abzusitzen; jedes Mal, wenn wir mit irgendetwas nicht klarkamen, hat Uri sich zu unserem Haus geschleppt, die kleinen Kümmernisse erkundet, eine Brille gesucht, die wie verhext verschwunden war, diese oder jene Verwirrung mit den Formularen der Lebensversicherung geklärt, sich ins Zeug gelegt, um einen Dachdecker aufzutreiben, wenn das Wasser durch die Decke lief, oder, ohne irgendjemandem ein Wort zu
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