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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Die Ältesten im Kibbuz hatten beschlossen, unser jugendliches Talent am sinnvollsten darauf zu verwenden, einen Schwarm dieser Vögel zu impfen und anschließend das verschissene Heu auszumisten. Nun saßen wir zusammen, der pensionierte Staatsanwalt und der alternde Schriftsteller, denen Haare aus den Ohren wuchsen. Sein Körper war gebeugt. Er gestand, dass er trotz des Preises, mit dem er für sein letztes Buch ausgezeichnet worden war (ich hatte nichts davon gehört), eine schlimme Zeit durchmachte. Er brachte keinen Absatz zu Papier, den er nicht gleich in den Papierkorb beförderte. Und was machst du dann?, fragte ich. Willst du es wirklich wissen?, sagte er. Sonst hätte ich nicht gefragt, sagte ich. Also gut, sagte er, unter uns erzähle ich es dir. Er beugte sich über den Tisch und flüsterte zwei Wörter: Mrs.   Kleindorf. Was?, fragte ich. Genau das, was ich gesagt habe: Mrs.   Kleindorf. Ich kann dir nicht folgen, erklärte ich. Ich tue so, als schriebe ich an Mrs.   Kleindorf, sagte er. Meine Lehrerin aus dem siebten Schuljahr. Niemand anders wird es lesen, sage ich mir dann, nur sie allein. Es macht nichts, dass sie schon fünfundzwanzig Jahre tot ist. Ich denke an ihre freundlichen Augen und an die lächelnden roten Strichgesichter, die sie immer unter meine Aufsätze malte, das tut mir wohl. Und dann, sagte er, kann ich ein bisschen schreiben.
    Ich kehrte zu meinem Blatt Papier zurück. Liebe – schrieb ich, aber ich brach wieder ab, weil mir der Name meiner Lehrerin aus dem siebten Schuljahr nicht einfiel, auch keiner aus der sechsten, fünften oder vierten Klasse. Ich erinnerte mich an die Geruchsmischung von Bohnerwachs und ungewaschener Haut, an den trockenen Kreidestaub in der Luft, den Gestank von Klebstoff und Urin. Aber die Namen der Lehrerinnen waren mir entfallen.
    Liebe Mrs.   Kleindorf, schrieb ich, meine Frau liegt oben im Sterben. Einundfünfzig Jahre lang haben wir ein Bett geteilt. Nun liegt sie seit einem Monat im Krankenhaus, und ich gehe jeden Abend nach Hause und schlafe allein in unserem Bett. Ich habe das Bettzeug nicht gewaschen, seit sie fort ist. Ich fürchte, ich könnte dann nicht schlafen. Neulich ging ich ins Bad, und das Dienstmädchen entfernte gerade das Haar aus Eves Bürste. Was machst du da?, fragte ich. Ich mache die Bürste sauber, sagte sie. Fass diese Bürste nie wieder an, sagte ich. Verstehen Sie, was ich sagen will, Mrs.   Kleindorf? Und wo wir schon bei Ihnen sind, möchte ich noch etwas fragen. Wie kommt es, dass es immer Unterricht in Geschichte, Mathe, Naturkunde und weiß Gott was für unnützen Sachen gab, lauter Wissen, das man getrost vergessen konnte, das Sie diese Siebtklässler Jahr für Jahr gelehrt haben, aber nie etwas über den Tod? Keine Übungen, keine Arbeitshefte, keine Abschlussprüfung zu dem einzigen Thema, das zählt?
     
    Gefällt dir das, mein Sohn? Das dachte ich mir. Leiden: genau dein Thema.
    Egal, weiter kam ich nicht. Ich steckte den unfertigen Brief in meine Tasche und ging wieder in das Zimmer, wo deine Mutter zwischen Kabeln, Schläuchen, Piepsern und Tropfen lag. An der Wand hing ein Landschaftsaquarell, ein idyllisches Tal, ein paar ferne Hügel. Ich kannte jeden Millimeter auswendig. Es war ein flaches, geschmackloses Gemälde, eigentlich grauenhaft, ungefähr in der Art, wie es beim Malen nach Zahlen herauskommt, oder wie die Landschaften aus der Büchse, die in Souvenirläden verkauft werden, aber genau in diesem Moment beschloss ich, wenn ich dieses Zimmer zum letzten Mal verließe, würde ich es von der Wand abhängen und mitnehmen, so, wie es war, inklusive Billigrahmen. Ich hatte es so viele Stunden und Tage lang angestarrt, dass dieses beschissene Bild mir auf irgendeine Weise, die ich nicht erklären kann, etwas bedeutete. Ich hatte es angefleht, mit ihm geredet, gestritten, es verflucht, ich hatte mich hineinversetzt und war in dieses unzulängliche Tal eingedrungen, und nach und nach hatte es eine Bedeutung für mich gewonnen. Also beschloss ich, während sich deine Mutter noch an ihr letztes Fitzelchen unmenschlichen Lebens klammerte, dass ich es, wenn alles vorbei wäre, von der Wand nehmen, es unter meine Jacke stecken und mich damit aus dem Staub machen würde. Ich schloss die Augen und dämmerte ein. Als ich aufwachte, war ein kleiner Pulk von Schwestern um das Bett versammelt. Eine aufflackernde Geschäftigkeit, dann entfernten sie sich, und deine Mutter war still. Von dieser Welt gegangen, wie man
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