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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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auf Touren. Du schriest einen markerschütternden Schrei. Was für ein Schrei! Als würdest du selbst darauf vorbereitet, dem Messer geopfert zu werden. Ich spürte ein angenehmes Prickeln in den Nervenenden. Danach, als du mit dem erbärmlichen Geschöpf in deinen wiegenden Armen auf dein Zimmer geflohen warst, wurde das Gesicht deiner Mutter zu Stein. Wir stritten, wie immer, wenn es um dich ging, und ich sagte ihr, sie sei verrückt, wenn sie glaube, dass ich so ein Benehmen dulden würde. Und sie, die, seit du ein Kleinkind warst, sämtliche Bücher über Kinderpsychologie aufgesogen, jede Theorie mit Löffeln gefressen hatte, versuchte mich zu überzeugen, dass diese Schildkröte für dich ein Symbol deiner selbst sei, und wenn wir geringschätzig mit ihren Bedürfnissen und Gelüsten umgingen, sei es für dich das Gleiche wie eine Missachtung deiner eigenen Person. Ein Symbol deiner selbst, um Himmels willen! Den Anweisungen dieser lächerlichen Bücher folgend, brachte sie es fertig, sich zu drehen und zu winden, bis sie sich in deinen kleinen Schädel hineinversetzen und nicht nur verstehen, sondern mitfühlen konnte, dass der Einkauf von Rotkohl statt Weißkohl eine seelische Misshandlung darstellte. Ich ließ sie ihre Ausführungen zu Ende bringen. Wartete ab, bis sie mürbe war, sich in Theorien verstrickte. Dann sagte ich ihr, sie habe den Verstand verloren. Und wenn du dich als stinkendes, ekliges, hirnloses Reptil sähest, sei es Zeit, dich auch als solches zu behandeln. Sie stürmte aus dem Haus. Aber eine halbe Stunde später war sie wieder da, einen traurigen kleinen Weißkohl in der Hand, und bat dich, durch die Türritze flüsternd und flehend, sie hereinzulassen. Ein paar Monate danach haben wir das Haus in Beit Zayit gekauft, und du hast die ganze Nacht darüber gebrütet, wie die Schildkröte am besten zu transportieren sei. Den ganzen Morgen hast du damit zugebracht, die Fische auf Beutel zu verteilen und die Schildkröte psychologisch zu beraten. Während der Fahrt zu dem neuen Haus hieltest du das Aquarium auf dem Schoß, und bei jeder Kurve, die ich fuhr, kam die Schildkröte ins Rutschen und krachte in die Ecken. Dir stiegen Tränen in die Augen, weil du glaubtest, ich sei grausam, aber du hattest mich überschätzt: Nicht einmal ich war aus freien Stücken zu solchen Folterungen fähig. Und schließlich fand dein kostbarer Liebling doch nicht durch meine Hände sein tragisches Ende. Eines Tages ließest du die Schildkröte draußen in der Sonne, und als du wiederkamst, lag sie auf dem Rücken, der Panzer aufgebrochen, dem Angriff einer echten Bestie erlegen.
     
    Bald nachdem wir umgezogen waren, begann deine nächtliche Streunerei. Du dachtest, niemand wüsste etwas davon, aber ich wusste es. Du hast mir in nichts vertraut, doch ich bewahrte dein kleines Geheimnis. In dieser Zeit kam es oft vor, dass ich mitten in der Nacht mit unbändigem Heißhunger aufwachte. Dann ging ich nach unten in die Küche, stellte mich vor den Kühlschrank und rupfte dem gebratenen Hühnchen das Fleisch von den Knochen, zu hungrig, um mir einen Teller zu nehmen, mich hinzusetzen oder auch nur das Licht anzumachen. Eines Nachts stand ich so, im Dunkeln essend, da und sah eine Gestalt den Vorgarten durchqueren, eine Art Strichmännchen, das sich unter irgendeiner Zufuhr von kinetischer Energie über das Gras zu bewegen schien. Es hielt eine Minute lang inne, als hätte es etwas gesehen oder gehört, was sein Interesse erregte. Der Mondschein war schwach, und soweit ich sehen konnte, sah das Strichmännchen weder wie ein Mann noch wie eine Frau aus, auch nicht wie ein Kind. Vielleicht war es kein Männchen, sondern ein Tier. Ein Wolf oder ein wilder Hund. Erst als sich die Gestalt wieder in Bewegung setzte, sich seitlich dem Haus näherte und ich einen Augenblick später leise die Tür aufgehen hörte, und dann die schnellen, sicheren Bewegungen von jemandem, der genau wusste, wo er war – erst da wurde mir klar, dass du es warst.
    Ich blieb still in der Küche, bis ich dich über die Treppe in dein Zimmer verschwinden hörte. Dann nahm ich mir deine matschigen Schuhe vor, die neben der Tür erschöpft auf der Seite lagen, um mehr darüber zu erfahren, was es mit deinem verstohlenen kleinen Ausflug auf sich haben mochte, was du wohl angestellt hattest und mit wem – obwohl, wenn irgendjemand beteiligt sein sollte, konnte es nur Shlomo sein. Wo ist der eigentlich geblieben? Shlomo, an dem du hingst wie ein

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