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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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dir zehn Jahre lang so nahe, ja näher gewesen war als deine eigenen Glieder. Wie ist es, habe ich dich einmal gefragt, ein Mensch mit so hohen Prinzipien zu sein, dass niemand danach leben kann? Aber du hast mir nur den Rücken gekehrt, wie du allen den Rücken kehrtest, die dich mit ihren Unzulänglichkeiten kränkten. So saßest du denn gebeugt im Garten, wie ein alter Mann, hungernd und darbend, weil die Welt dich wieder einmal enttäuscht hatte. Wenn ich mich zu nähern versuchte, wurdest du starr und stumm. Vielleicht hast du meinen Abscheu gespürt. Ich überließ dich deiner Mutter. Ihr zwei wart ständig am Flüstern, und jedes Mal, wenn ich den Raum betrat, kehrte Schweigen ein.
    Danach gab es ein anderes Mädchen. Die Freundin, die du beim Militär kennengelernt hast, als ihr beide in Nahal Zofar stationiert wart. Du kamst an den Wochenenden nicht mehr nach Hause; du wolltest in ihrer Nähe sein. Später wurde sie in den Norden versetzt, nicht wahr? Aber ihr fandet Möglichkeiten, euch zu sehen. Als sie mit ihrem Dienst fertig war, schrieb sie sich an der Hebräischen Universität ein. Deine Mutter erzählte mir, du habest vor, ihr dorthin zu folgen. Die Armee wollte dich zum Offizier ausbilden, aber du hast abgelehnt. Du hattest etwas Besseres zu tun. Du wolltest Philosophie studieren. Was macht man damit?, fragte ich. Du hast mich düster angestarrt. Ich bin nicht blöd; ich begreife den Wert einer Erweiterung des Menschenbildes. Aber für dich, mein Kind, wünschte ich mir ein Leben aus handfesten Dingen. Dich noch weiter in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen, zu immer größeren Abstraktionen, das schien mir ein Desaster für dich. Es gibt welche, die haben die richtige Konstitution dafür, aber nicht du. Von Kindheit an hast du unermüdlich das Leiden gesucht und gesammelt. Natürlich ist das alles nicht so einfach. Man entscheidet sich nicht zwischen dem Außen- und dem Innenleben; man lebt mit beiden, wie kläglich auch immer. Die Frage ist: Wo setzt man den Schwerpunkt? Und dabei habe ich dich, wenn auch etwas ungehobelt, zu führen versucht. In einen Schal gewickelt, von deinen Ausflügen in die Welt genesend, saßest du im Garten und lasest Bücher über die Entfremdung des modernen Menschen. Was hat der moderne Mensch den Juden voraus?, fragte ich, als ich mit dem Gartenschlauch an dir vorbeiging. Die Juden haben Tausende von Jahren in der Entfremdung gelebt. Für den modernen Menschen ist es ein Hobby. Was kannst du aus diesen Büchern lernen, das du nicht schon in die Wiege gelegt bekommen hast? Und dann, beim Wässern der Gemüsebeete, ließ ich einen kleinen Strahl in deine Richtung spritzen, der dein Buch einweichte. Aber nicht ich stand dir im Weg. Ich hätte es nicht gekonnt, auch wenn ich es gewollt hätte.
     
    Wir standen im Eingang des Hauses, das einst unser aller Haus gewesen war, mit Leben erfüllt, bis ins hinterste Zimmer übersprudelnd vor Lachen, Streit, Tränen, Staub, Essensgerüchen, Schmerz, Lust, Ärger und auch Schweigen, dem festgeschnürten Schweigen von Menschen, die aneinandergedrängt das bilden, was man eine Familie nennt. Dann rückte erst Uri zum Militärdienst ein, drei Jahre später du, und nach dem, was dir passierte, hast du Israel verlassen, und seitdem waren nur noch deine Mutter und ich im Haus und konnten nur ein, höchstens zwei Zimmer gleichzeitig bewohnen, der Rest blieb leer. Und jetzt war es mein Haus allein. Nur standest eben du noch da wie ein unbeholfener Besucher, ein müder Gast, mit deinem Koffer in der Hand. Ich blickte auf den Koffer, dann wieder zu dir. Du nahmst ihn von einer Hand in die andere. Ich dachte – fingst du an, brachst aber wieder ab, irgendeiner unsichtbaren Spur durch den Raum folgend. Ich wartete.
    Ich dachte, vielleicht, fingst du wieder an, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern ein bisschen hierbleiben.
    Ich muss schockiert ausgesehen haben, denn du hast geschluckt und weggeschaut. Ich war es wirklich, Dov, ich war schockiert. Und ich wollte sagen: Ja. Natürlich. Bleib hier, bei mir. Ich mache dir dein altes Bett. Aber das sagte ich nicht. Stattdessen sagte ich: Deinetwegen oder meinetwegen? Eine leichte, aber unmissverständliche Grimasse durchzuckte dein Gesicht, ehe sie verschwand und deine Züge wieder matt und leblos wirkten. Einen Augenblick dachte ich, ich hätte dich verloren, du würdest dich wieder von mir abwenden, wie du dich immer von mir abgewandt hast. Aber nein. Du bliebst stehen, schautest an

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