Das große Haus (German Edition)
Gesichts. Für dich war er ein Genie auf der Höhe von Picasso. In seiner Gegenwart bist du verstummt. Wenn niemand kam, der sich auf die Kiste setzen wollte, wetzte der Araber die Schere an einem Stein und summte etwas Kompliziertes, das sich endlos in die Länge zog. Eines Tages hatte ich euch beide dabei, dich und Uri, und als wir bei dem Araber vorbeikamen, sagte ich in einem Anflug von Stolz oder Großherzigkeit: Wer will ein Porträt, Jungs? Mit einem Satz war Uri auf der Kiste. Er versammelte seinen ganzen jugendlichen Ernst und setzte sich in Pose. Der Araber fixierte ihn mit gesenkten Augenlidern, schnippelte, und heraus kam der stolze Umriss meines Uri. Den ganzen Ruhm eines kraftvollen Lebens konnte man in der Adlernase lesen. Er hüpfte vom Sitz und nahm sein Ebenbild hellauf begeistert entgegen. Was wusste er von Enttäuschung oder Tod? Nichts, wie das Porträt des Arabers deutlich zu erkennen gab. Nervös nahmst du deinen Platz auf der Kiste ein, wo schon so viele von dem sagenhaften Künstler abschätzend ins Auge gefasst und auf eine einzige ungebrochene Linie reduziert worden waren. Der Araber begann zu schnippeln. Du saßest vollkommen still. Dann sah ich deine Augen flattern und auf den Boden schielen, wo sich das Abgefallene gesammelt hatte, die schwarzen Papierschnipsel. Du hast den Blick wieder in die Augen des Arabers gehoben, den Mund aufgemacht und geschrien. Geschrien und geschluchzt und konntest dich einfach nicht mehr einkriegen. Das ist verrückt, was du da machst, sagte ich und rüttelte dich an den Schultern, aber du schriest weiter. Du schriest den ganzen Weg nach Hause, immer zehn Meter im Schlepptau hinter uns. Uri hielt sein Konterfei fest in der Hand und drehte sich besorgt nach dir um. Später hat deine Mutter es ihm eingerahmt. Ich weiß nicht, was aus deinem geworden ist. Vielleicht hat der Araber es weggeworfen. Oder er hat es aufgehoben, für den Fall, dass ich zurückkäme, weil ich schon bezahlt hatte. Aber ich kehrte nicht zurück. Von da an hast du dich geweigert, mit mir auf den Shuk zu gehen. Siehst du, mein Junge? Siehst du, was ich dir austreiben wollte?
Du fuhrst mich zu unserem Haus, meinem und deiner Mutter Haus, nur dass es jetzt nicht mehr ihres war. Sie verbrachte ihre erste Nacht unter der Erde. Auch jetzt kann ich es immer noch nicht denken. Mrs. Kleindorf, mir wird speiübel bei dem Gedanken, dass der leblose Körper meiner Frau mit zwei Metern Erde bepackt da unten liegt. Aber ich drücke mich nicht davor. Ich tröste mich nicht mit der Vorstellung, sie sei, in der Atmosphäre zerstäubt, um mich oder sie sei in Gestalt der Krähe wiedergekehrt, die ein paar Tage nach ihrem Tod im Garten gelandet und seltsamerweise dort geblieben ist, ohne ihr Männchen. Ich verbillige ihren Tod nicht mit solchem Mumpitz. Der Kies knirschte unter den Reifen deines deutschen Autos, wir kamen zum Halten, und du hast den Motor abgestellt. Der Himmel über den Hügeln war tiefindigoblau, mit dem letzten Schimmer des Tages, aber das Haus war schon von Dunkelheit umschlossen. Und während ich in der kühlen Stille dem leisen, absterbenden Knacken des Motors lauschte, erinnerte ich mich plötzlich an den Tag, als wir von dem Haus in Beit Hakerem hierhergezogen waren. Weißt du noch? Du hattest dich den ganzen Vormittag in deinem Zimmer eingeschlossen, um die Fische aus deinem Aquarium in kleine, mit Wasser gefüllte Plastikbeutel umzusetzen – in größter Sorge um ihr Wohl die Beutel immer wieder geöffnet und geschlossen. Während wir anderen hektisch mit Kistenzukleben und Möbelschleppen zugange waren, hast du deine Fische austariert und deine geliebte Schildkröte reisefertig gemacht. Was für eine Fürsorge du an dieses Reptil verschwendet hast! Es wurde regelmäßig in den Garten getragen, damit es seine Beinchen strecken konnte; jeden Tag hast du ihm diesen Augenblick an der Sonne gegönnt, ihm in die kleinen Knopfaugen gestarrt, um das Geheimnis seiner Seele zu erkunden. Wenn deine Mutter die falsche Kohlsorte mit nach Hause brachte, hast du vor Wut geweint – geschrien und geweint , weil sie so unsensibel war, Rotkohl statt Weißkohl zu kaufen. Und ich schrie zurück, du seist ein undankbares Geschöpf. In meinem Zorn packte ich deine kleine Freundin und ließ sie über dem surrenden Messer des Küchenmixers baumeln. Verzweifelt mühte sie sich ab, das Bein wieder in ihren sicheren Panzer einzuziehen, aber ich klemmte es zwischen zwei Finger und brachte den Motor
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