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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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siamesischer Zwilling, mit dem du dich unter dem Radar anderer in einer eingewachsenen Privatsprache aus Grimassen, Augenrollen und Ticks verständigt hast. Ich war mir fast sicher, dass hinter deinem Mitternachtsausflug irgendein unreifer Plan steckte, den ihr beide in der Schule wortlos mit ein paar heimlich hin- und hergesendeten Zuckungen der Gesichtsmuskeln ausgeheckt hattet, während die Mrs.   Kleindorfs euch mit gequälten Mienen die zweitausend Jahre, immer die zweitausend Jahre, in die Köpfe hämmerten und euch an die fernsten Ecken des Klassenzimmers auseinandersetzten. Ich nahm mir vor, dich am nächsten Morgen zur Rede zu stellen, aber als du zum Frühstück erschienst, verriet dein Gesicht nicht die geringste Spur von einem Abenteuer, und ich begann mich zu fragen, ob du nicht vielleicht geschlafwandelt hattest. Aber vier oder fünf Nächte später war ich um zwei Uhr morgens gerade dabei, das letzte Schnitzel hinunterzuschlingen, als ich dich wieder über den Weg vor dem Haus kommen sah. Der Mond schien hell, und ich erhaschte einen Blick auf dein beinahe verklärt ruhendes Gesicht.
     
    Jetzt gingst du mit mir über denselben Weg, mein Gefummel mit den Schlüsseln abwartend, und ausnahmsweise war ich einmal froh, dass ich vergessen hatte, eine Lampe brennen zu lassen, und du nicht sehen konntest, wie meine Hände plötzlich zitterten. Schließlich bekam ich die Tür auf und schaltete das Licht ein. Jetzt komme ich zurecht, sagte ich, du kannst gehen. Und erst da senkte ich den Blick und sah, dass du einen kleinen Koffer in der Hand hieltest. Ich schaute den Koffer an, dann wieder dich. Dir ins Gesicht, wirklich ins Gesicht, wie ich es seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Du bist alt geworden, das ist wahr, aber da war noch etwas anderes, etwas in deinen Augen oder deinen Mundwinkeln, eine Art Schmerz – aber nicht nur Schmerz, mehr als das, ein Ausdruck wie niedergeschmettert von der Welt, als wärst du am Ende besiegt worden. Und es regte sich etwas in mir. Eine Art Torschlusspanik ergriff Besitz von mir. Als wäre dein Schmerz jetzt, wo deine Mutter nicht mehr war, nicht mehr da war, um ihn aufzufangen, ihn zu besänftigen, ihn als ihren eigenen zu empfinden, mir überlassen geblieben. Versuche zu verstehen. Dein Leben lang hat dein Schmerz mich in Rage gebracht. Deine Dickköpfigkeit, deine Entschlossenheit, deine Innerlichkeit, aber vor allem dein Schmerz, der sie immer zu dir eilen ließ, um dich zu retten. Und in dem Moment, als ich dich im Eingangslicht anschaute, sah ich etwas in deinen Augen. Deine Mutter war nicht mehr, am Ende hatte sie uns doch verlassen, uns miteinander alleingelassen, und ich sah etwas in deinem Gesicht, das mich überwältigte.
    Ich schaute den Koffer an, dann wieder dich und wieder den Koffer. Ich wartete auf deine Erklärung.
     
    Als du ein kleiner Junge warst, sagte deine Mutter zu mir, sie würde töten, um dich zu retten. Du würdest also einen anderen töten, damit er leben kann, wiederholte ich. Ja, sagte sie. Und würdest du auch fünf sterben lassen, damit er leben kann?, fragte ich. Ja, sagte sie. Hundert?, fragte ich. Sie antwortete nicht, aber ihre Augen wurden kalt und hart. Tausend? Sie ging weg.
     
    Nein, es ist nicht meine Schuld, dass du nicht der Schriftsteller geworden bist, der du werden wolltest. Du wolltest eine Geschichte über einen Hai schreiben, der die Last der menschlichen Gefühle auf sich nimmt. Leiden, sagte ich. Was?, sagtest du mit bebenden Lippen. Hör zu, Dov, sagte ich, du musst es unter Kontrolle bringen. Du musst es bei den Hörnern packen und es niederringen. Du musst es erwürgen, sonst erwürgt es dich. Du schautest mich an, als hätte ich in meinem ganzen Leben nichts begriffen. Aber du warst derjenige, der nicht begriff. Du trugst deine Armeeuniform, den Tornister über die Schulter geschlungen. In Uniform kann ein Mann mit Abstand von sich selbst herumlaufen, sich in der Flanke eines großen Ungeheuers, dessen Kopf er nie gesehen hat, verlieren. Aber nicht du, mein Junge. Du hast in Zivil gelitten, und in Uniform war es nicht anders. Du warst zum ersten Mal in drei Monaten auf Urlaub nach Hause gekommen. Erinnerst du dich daran? Du warst noch in Dafna verliebt. Wegen ihr warst du gekommen. Vielleicht hatte dein Leiden sie am Anfang angezogen, aber selbst ich konnte sehen, dass es sie schon zu langweilen begann. Sie kam her, und ihr beide habt euch in deinem Zimmer eingeschlossen, aber nicht wie sonst, heldenhaft,

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