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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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mir vorbei ins Wohnzimmer, als sähest du dort etwas, eine Erinnerung vielleicht, den Geist des Kindes, das du einmal warst.
    Meinetwegen, sagtest du schlicht.
    Ich erforschte dein Gesicht, versuchte zu verstehen.
    Was ist mit der Arbeit? Musst du nicht zurück?, fragte ich, weil das all die Jahre, in denen du dich so gut wie nie hattest blicken lassen, deine Entschuldigung gewesen war, immer Arbeit, die dich unabkömmlich machte, die dich abhielt.
    Du wandest dich. Die Falten zwischen deinen Augen wurden tiefer, dann hobst du die Hand und fasstest dich an die Schläfe, direkt über der kleinen blauen Ader, die früher, als Kind, immer hervorgestanden und gepocht hatte, wenn du wütend warst.
    Ich habe mein Richteramt aufgegeben, sagtest du.
    Ich glaubte, ich hätte nicht richtig verstanden. Du, für den es nichts gab als deine Arbeit. Also fragte ich noch einmal: Sicher werden sie dich dort doch wieder brauchen? Aber ich merkte, dass du nicht wirklich bei mir warst, wie du da im Eingang standest. Du warst bei wer weiß welcher Erinnerung, die du hinter mir über den Boden des Wohnzimmers huschen sahst.
     
    Ein seltsamer Junge, der von Anfang an nach innen wuchs. Wenn wir dich etwas fragten, mussten wir manchmal einen halben Tag auf die Antwort warten. Gott bewahre, dass du ohne Nachdenken geantwortet hättest, ohne dich der Wahrheit absolut zu vergewissern. Wenn die Antwort endlich kam, wusste niemand mehr, wovon die Rede gewesen war. Mit vier Jahren bekamst du deine ersten Wutanfälle. Du hast dich auf den Boden geschmissen, mit den Fäusten getrommelt, dir den Kopf angeschlagen und alles durchs Zimmer geschleudert. Oft passierte das, wenn du deinen Willen nicht bekamst, aber manchmal war der Auslöser auch eine Winzigkeit, vollkommen unerwartet, wenn die Kappe eines Leuchtstifts nicht mehr aufzufinden oder dein Sandwich einfach in der Mitte durchgeschnitten war statt in der Diagonalen. Deine Vorschullehrerin rief an, um uns ihre Besorgnis mitzuteilen. Du weigertest dich stur, dich an irgendetwas in der Klasse zu beteiligen. Du setztest dich abseits, hieltest dich von den anderen fern, als wären sie aussätzig, und stelltest dich taub, wenn sie mit dir sprachen. Du lachtest nie, sagte sie, und wenn du weintest, dann sei das kein kurzes Heulen oder leises Wimmern wie bei den anderen Kindern, kein Weinen, auf das man eingehen könne, das sich beruhigen ließe. Du seist einfach untröstlich. Bei dir sei es etwas Existenzielles. Das war ihr Wort. Deine Mutter musste dich so häufig früher abholen, dich retten und nach Hause bringen, dass sie begann, es mir zu verheimlichen, um nicht meinen Zorn heraufzubeschwören. Ein Termin mit dem Schulpsychologen wurde vereinbart. Er lud sich selbst zu uns nach Hause ein. Er war ein Mann mit schütterem Haar und einwärts gedrehten Fußspitzen, der ein Taschentuch benutzte, um sich den fließenden Schweiß abzutupfen. Ich musste extra früher aus dem Büro weg. Deine Mutter versorgte ihn mit Kaffee und Keksen, gab dir ein Glas Milch, und dann ließen wir euch im Wohnzimmer allein. Eine Stunde lang zog der Psychologe, Mr.   Shatzner, alle möglichen Sachen aus seiner Tasche und brachte dich dazu, Geschichten über die kleinen Spielzeuge und Figuren zu erfinden. Wir konnten euch durch die Glastür sehen, indem wir auf Zehenspitzen über den Flur daran vorbeischlichen. Danach durftest du im Garten spielen gehen, während er uns nach unserem «häuslichen Leben» befragte. Bevor er ging, ließ er sich eine Runde durchs Haus führen. Er schien überrascht, eine so sonnige und warme Umgebung zu finden, voller Pflanzen und Holzspielzeug und so vielen von deinen mit Buntstift gemalten Bildern an die Wände geklebt. Das Äußere kann täuschen, sah ich ihn denken, schwer daran arbeitend, die Fassade abzukratzen, um die Verwahrlosung und Brutalität darunter zu enthüllen. Sein Blick blieb an der Wolldecke auf deinem Bett haften. Deine Mutter wirkte betroffen, ich sah, wie sie sich auf die Lippe und zugleich in den Hintern biss, dass – was? Deine Decke nicht kuschelig genug war? Dass sie vielleicht doch so eine bunte hätte kaufen sollen, mit Autos und Lastern drauf, wie Joni von nebenan eine hatte? Ich musste mich mit aller Kraft beherrschen, um ihn nicht beim Ohr zu packen und aus dem Haus zu werfen. Du hast draußen gespielt. Ich sah dein rotes Hemd hinter dem Quittenbusch aufblitzen, wo du zwei Tage vorher eine Ameisenkolonie entdeckt hattest. Darf ich fragen, sagte Mr.  

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