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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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erklärte sie. Aber du hast doch einen Schreibtisch, sagte ich töricht. Den habe ich verschenkt, sagte sie. Verschenkt?, wiederholte ich ungläubig. An Daniel, sagte sie. Er hat ihn bewundert, und da habe ich ihn ihm gegeben.
    Ja, Lotte war mir ein Geheimnis, aber ein Geheimnis, durch das ich irgendwie einen Weg fand. Sie war als einziges Kind bei ihren Eltern gewesen, als die SS an jenem Oktoberabend 1938 bei ihnen geklingelt und sie mit den anderen polnischen Juden zusammengetrieben hatte. Ihre Brüder und Schwestern waren alle älter als sie – die Schwester studierte Jura in Warschau, ein Bruder war Herausgeber einer kommunistischen Zeitschrift in Paris, ein anderer Musiklehrer in Minsk. Ein Jahr lang hat sie in engster Umklammerung mit ihren ältlichen Eltern im versiegelten Abteil dieses rasenden Albtraums gelebt. Als ihr Visum für die Kinderbegleitung kam, muss es wie ein Wunder gewirkt haben. Natürlich wäre es unvorstellbar gewesen, es nicht zu nehmen und zu gehen. Aber es muss ebenso unvorstellbar gewesen sein, ihre Eltern zu verlassen. Ich glaube, Lotte hat es sich nie verziehen. Ich habe immer geglaubt, darin bestehe ihr einziges wirkliches Bedauern im Leben, aber ein Bedauern von solchen Ausmaßen, dass sie sich nicht direkt damit auseinandersetzen konnte. Es hob seinen Kopf an unwahrscheinlichen Orten. So dachte ich zum Beispiel, was Lotte an der Sache mit der Frau, die auf der St. Giles’ von einem Bus angefahren worden war, so betroffen machte, sei in Wirklichkeit, wie sie selbst in dem Moment reagiert hatte. Sie hatte das Unglück beobachtet – wie die Frau die Straße betrat, die kreischenden Bremsen, dann der entsetzliche dumpfe Schlag –, und als sich Menschen um die am Boden liegende Frau versammelten, hatte sie sich abgewandt und war weitergegangen. Mir gegenüber erwähnte sie den Vorfall erst abends, als wir lesend beieinandersaßen. Sie erzählte mir die Geschichte, und natürlich fragte ich, was jeder fragen würde – ob der Frau etwas Schlimmeres passiert sei. Lottes Gesicht nahm einen gewissen Ausdruck an, den ich schon oft gesehen hatte und den ich nur als eine Art Stille beschreiben kann, als hätte sich alles, was normalerweise dicht unter der Oberfläche liegt, in die Tiefen zurückgezogen. Ein Augenblick verging. Ich empfand etwas, was man manchmal mit Menschen erlebt, die einem sehr vertraut sind, wenn die Entfernung, die gewöhnlich wie ein chinesisches Papierspielzeug zusammengefaltet zwischen einem liegt, plötzlich aufspringt. Doch dann zuckte Lotte die Schultern, brach den Bann und sagte, sie wisse es nicht. Weiter sagte sie nichts, aber am nächsten Tag durchsuchte sie die Zeitung, wie ich mir sicher war, nach einem Bericht über den Unfall. Sie ist weggegangen, verstehen Sie? Sie ist weggegangen, ohne abzuwarten, ohne sich zu erkundigen, was passiert war.
    Ihr ganzes Leben, dachte ich, drehe sich um ihre Eltern. Wenn sie die Geschichte von dem Bus erzählte, ging es um ihre Eltern, wenn sie schreiend aufwachte, ging es um ihre Eltern, und wenn sie mir gegenüber die Beherrschung verlor und tagelang eisig wurde, glaubte ich, gehe es ebenfalls irgendwie um ihre Eltern. Der Verlust war so extrem, dass es nicht nötig erschien, anderswo zu suchen. Wie also hätte ich wissen sollen, dass im Strudel ihrer inneren Verluste auch ein Kind verloren war?
    Ich hätte vielleicht nie etwas davon erfahren, wenn nicht gegen Ende ihres Lebens etwas Seltsames geschehen wäre. Damals war ihr Alzheimer schon ziemlich fortgeschritten. Am Anfang hatte sie versucht, es zu überspielen. Ich erinnerte sie an irgendetwas, was wir zusammen gemacht hatten – ein Restaurant in Bournemouth, direkt am Meer, wo wir vor Jahren gegessen hatten, oder eine Bootsfahrt vor Korsika, als ihr der Hut weggeflogen und auf dem Rücken der Wellen davongeschwommen war, den Küsten Afrikas entgegen oder so, wie wir es uns später sonnendurchflutet, nackt und glücklich im Bett ausgemalt hatten. Ich erzählte von einer dieser Erinnerungen, und sie sagte ja sicher, natürlich, aber ich sah in ihrem Blick, dass es unter ihren Worten leer war, ein Abgrund wie der schwarze Teich, in dem sie jeden Morgen verschwand, egal bei welchem Wetter. Dann folgte eine Phase, in der sie es mit der Angst bekam, sich bewusst war, wie viel ihr an einem Tag, vielleicht sogar jede Stunde verlorenging, wie ein langsam verblutender, ins Vergessen hinüberdämmernder Mensch. Wenn wir spazieren gingen, hielt sie meinen Arm fest, als

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