Das große Haus (German Edition)
Mittagszeit geht bis drei, sagte sie. Dann schließen wir, und zum Abendessen, um sechs, wird wieder geöffnet. Sie hatte sich umgezogen, trug nicht die schwarz-weiße Dienstkleidung, sondern einen blauen Minirock und einen gelben Pulli. Ich entschuldigte mich, bezahlte meine Rechnung, ließ ein großzügiges Trinkgeld da und erhob mich. Mag sein, dass sie, ein junges Mädchen, höchstens zwanzig Jahre alt, eine Grimasse in meinem Gesicht gesehen hat, die verzerrte Miene eines Mannes, der ein furchtbares Schwergewicht hebt, jedenfalls fragte sie mich, ob ich es weit hätte. Ich glaube nicht, sagte ich, denn ich wusste nicht genau, wo ich war. Ich muss zum Theaterplatz. Sie sagte, den Weg gehe sie auch, und bat mich zu meiner Überraschung, ich möge warten, bis sie ihre Tasche geholt habe. Ich habe keinen Regenschirm, erklärte sie und deutete auf meinen. Während ich auf sie wartete, musste ich wohl oder übel meine Meinung über die Kneipe revidieren, wo jetzt, sorgfältig von einem Kellner arrangiert, auf jedem Tisch eine Kerze stand und wo es, wie ich einfach zugeben musste, als das Mädchen mit einem Lächeln wiederkam, eine so hübsche und freundliche Bedienung gab.
Wir drängten uns unter dem Regenschirm zusammen und zogen in den Kampf gegen das Wetter. Ihre Nähe hellte meine Stimmung sofort auf. Es war kein weiter Weg, nur zehn Minuten, und wir unterhielten uns hauptsächlich über ihre Kurse an der Kunstschule und ihre Mutter, die wegen einer Zyste im Krankenhaus lag. Jeder, der uns begegnete, hätte uns für Vater und Tochter halten können. Als wir den Theaterplatz erreichten, sagte ich ihr, sie solle den Regenschirm behalten. Sie wehrte ab, aber ich bestand darauf. Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?, sagte sie im letzten Moment, bevor wir auseinandergingen. Von mir aus, sagte ich. Woran haben Sie im Restaurant die ganze Zeit gedacht? Sie hatten ein so elendes Gesicht, und immer wenn ich dachte, schlimmer geht’s nicht, wurde es noch elender. An Bahnhöfe, sagte ich. Bahnhöfe und Zirkusse, und dann strich ich ihr kurz über die Wange, sehr sanft, wie ich glaubte, dass ihr Vater es getan hätte, der Vater, den sie gehabt haben müsste, wenn die Welt gerecht wäre, und ging zum Hotel zurück, wo ich meine Sachen packte und das Zimmer räumte, um den nächsten Flug nach London zu nehmen.
Es war spät, als das Taxi vor unserem Haus in Highgate hielt, aber was ich davon sehen konnte, erfüllte mich mit Freude – seine vertrauten Konturen, die sich gegen den Himmel abhoben, der durch die Blätter fallende Schein der Straßenlaternen, das gelbe Licht in den Fenstern, so gelb, wie es immer nur wirkt, wenn man von außen hineinschaut, gelb wie die Fenster auf jenem Gemälde von Magritte. Hier und jetzt beschloss ich, Lotte alles zu verzeihen. Solange das Leben weitergehen konnte wie bisher. Solange der Stuhl, der beim Einschlafen dastand, auch am Morgen dastehen würde, war mir egal, was mit ihm während der Zeit geschah, in der wir Seite an Seite schliefen, egal, ob es derselbe Stuhl war oder tausendfach ein anderer, oder ob er im Lauf der langen Nacht ganz aufhörte zu existieren – solange er, wenn ich mich darauf setzte, um mir die Schuhe anzuziehen, mein Gewicht hielt. Ich brauchte nicht alles zu wissen. Ich musste nur wissen, dass unser Leben gemeinsam so weitergehen würde, wie es immer gewesen war. Mit zitternden Händen bezahlte ich den Fahrer und suchte meine Schlüssel.
Ich rief Lottes Namen. Pause, dann hörte ich ihre Schritte auf der Treppe. Sie war allein. Sobald ich ihren Ausdruck sah, begriff ich, dass der Junge endgültig fort war. Ich weiß nicht wie, aber ich wusste es. Etwas Wortloses war übertragen worden. Wir umarmten uns. Als sie fragte, wie die Tagung gewesen sei und warum ich einen Tag früher nach Haus käme, sagte ich, es sei gut gewesen, nichts Besonderes, und ich hätte sie vermisst. Wir nahmen gemeinsam ein spätes Abendessen ein, und dabei erforschte ich Lottes Gesicht und Stimme nach irgendeinem Zeichen dafür, wie die Sache mit Varsky zu Ende gegangen sein mochte, aber der Weg war versperrt: In den folgenden Tagen war Lotte gedämpfter Stimmung, gedankenverloren, und ich ließ sie in Ruhe, wie immer.
Erst Monate später erfuhr ich, dass sie ihm ihren Schreibtisch geschenkt hatte. Ich fand es nur heraus, weil mir auffiel, dass im Keller ein Tisch fehlte, den wir dort aufbewahrten. Ich fragte Lotte, ob sie eine Ahnung habe, wo er sei. Sie benutze ihn als Schreibtisch,
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