Das große Haus (German Edition)
würde die Straße jeden Augenblick wegbrechen, die Bäume und Häuser, ganz England mit sich reißen und uns ins Bodenlose stürzen, trudelnd und fallend, unfähig, uns je wieder aufzurichten. Dann ging auch diese Phase vorbei, und sie erinnerte sich nicht mehr genug, um sich noch zu fürchten, erinnerte sich vermutlich nicht einmal daran, dass die Dinge einmal anders gewesen waren, und von da an machte sie sich allein, vollständig allein, auf eine lange Reise an die Ufer ihrer Kindheit zurück. Ihre Fähigkeit zum Gespräch, wenn man das noch so nennen konnte, zersetzte sich, und es blieben nur die Trümmer dessen, was einmal etwas so Schönes gewesen war.
In dieser Zeit begann sie zu wandern. Wenn ich vom Einkaufen zurückkam, stand die Haustür offen, und das Haus war leer. Als es das erste Mal geschah, nahm ich das Auto und fuhr eine Viertelstunde lang die Gegend ab, immer beunruhigter, bis ich sie eine halbe Meile entfernt an der Hampstead Lane an einer Bushaltestelle sitzend fand, ohne Jacke, mitten im Winter. Als sie mich sah, machte sie keine Anstalten, aufzustehen. Lotte, sagte ich über sie gebeugt, oder vielleicht sagte ich Liebste. Wo willst du hin? Einen Freund besuchen, sagte sie, indem sie ihre Füße hin und her kreuzte. Welchen Freund?, fragte ich.
Es wurde unmöglich, sie allein zu lassen. Sie wanderte nicht immer, aber ich hatte genügend Ängste ausgestanden, um für drei Nachmittage in der Woche eine Betreuung anzustellen, damit ich aus dem Haus gehen und die notwendigen Besorgungen erledigen konnte. Die erste Pflegerin, die ich fand, erwies sich als ein Albtraum. Zuerst hatte sie einen sehr professionellen Eindruck gemacht, mit einer langen Liste von Empfehlungen, aber es zeigte sich bald, dass sie sich wenig Mühe gab, kein Verantwortungsgefühl besaß und die Arbeit nur um des Geldes willen tat. Eines Nachmittags kam ich nach Hause, und sie stand nervös an der Tür. Wo ist Lotte?, fragte ich. Sie rang die Hände. Was ist hier los?, sagte ich und stürmte an ihr vorbei in den Flur, den Lotte und ich so viele Jahre zuvor zum ersten Mal gemeinsam betreten hatten, als das Haus noch der alten Töpferin im Rollstuhl gehörte und über uns der Schaden eines fehlgeleiteten Sturzbachs in der Decke hing, wobei ich zugeben muss, dass ich manchmal, wenn ich mitten in der Nacht aufwachte, immer noch glaubte, diesen Bach irgendwo durch die Wände rauschen zu hören. Aber der Flur war leer, ebenso das Wohnzimmer und die Küche. Wo ist meine Frau?, sagte ich, oder vielleicht habe ich gebrüllt, obwohl Brüllen mir eigentlich nicht liegt. Es geht ihr gut, versicherte mir diese sogenannte Pflegerin, Alexandra, oder Alexa, ich weiß nicht mehr. Eine sehr nette Frau hat angerufen, eine Friedensrichterin, wenn ich nicht irre. Sie ist schon unterwegs, sie bringt Lotte nach Hause. Ich versteh das nicht, brüllte ich, denn an diesem Punkt hatte ich sicher die Beherrschung verloren und angefangen zu brüllen. Wie konnte sie aus dem Haus wandern, wo Sie doch direkt neben ihr saßen? Nun ja, sagte die Pflegerin, ich saß nicht direkt daneben. Sie hat sich im Fernsehen etwas angeschaut, ein Programm, das mich nicht so interessiert hat, und da wollte ich im anderen Zimmer warten, bis sie fertig war. Aber dann hat sie noch eine andere Sendung von derselben Art gesehen, und da habe ich eine Freundin angerufen und eine Weile geredet, und als danach noch eine dritte Sendung kam, eine von diesen wirklich grässlichen, wo man vorgeführt bekommt, wie Schlangen hilflose Tiere verschlingen, Schlangen und Krokodile, glaube ich, wobei die dritte wohl mehr über Piranhas ging, also danach habe ich jedenfalls nachgesehen, ob sie etwas brauchte, und da war sie weg. Zum Glück haben sie gleich ein paar Minuten später vom Gericht angerufen, um Bescheid zu sagen, sie hätten Ms. Berg da und es sei alles in Ordnung.
Inzwischen war ich so in Rage, dass ich kaum sprechen konnte. Vom Gericht?, brüllte ich. VOM GERICHT?, und wäre nicht genau in dem Moment draußen ein Auto vorgefahren, hätte ich mich vielleicht auf sie gestürzt. Die Fahrerin, eine Frau Ende fünfzig, stieg aus und ging um den Wagen herum, um Lotte die Tür zu öffnen. Sie führte sie geduldig über den Eingangsweg, der längst nicht mehr von Gestrüpp umgeben war, sondern an beiden Seiten mit violetten Iris und Traubenhyazinthen bepflanzt – Purpur war Lottes Lieblingsfarbe. Da wären wir, Ms. Berg, endlich zu Hause, sagte die Frau, die Lotte am Arm hielt
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