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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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sähe ich es vielleicht nie wieder: die abgelaufenen Holzböden mit den breiten Dielen, Lottes blassgelber Lesesessel mit den Teeflecken auf der linken Armlehne, die ächzenden Bücherregale mit ihren endlosen, nicht periodischen Rückenmustern, die zum Garten führenden Fenstertüren, die skelettartigen Bäume in der Kälte. Ich schaute mir alles an und empfand es wie einen Pfeil in mir, nicht im Herzen, sondern im Bauch. Dann schloss ich die Tür und stieg ins Taxi, das am Straßenrand wartete.
    Kaum in Frankfurt angekommen, bereute ich die Wahl. Der Flug war unruhig, von Turbulenzen geschüttelt, und beim wackeligen Landeanflug durch den Sturm befiel die wenigen in ihre Mäntel gehüllten Passagiere ein ahnungsvolles Schweigen, oder ahnungsvoll nur als Hintergrund des lauten Stöhnens einer Inderin in violettem Sari, die ihr verängstigtes Kleinkind an die Brust gepresst hielt. Der Himmel außerhalb der Gepäckausgabe war düster und reglos. Ich nahm die S-Bahn zum Hauptbahnhof, von dort ging ich zu Fuß zu dem Hotel in einer kleinen Straße am Theaterplatz, wo ich ein Zimmer reserviert hatte und das sich als ein trostloses, anonym gehaltenes Haus erwies, dessen einzige Bemühung um Fröhlichkeit in den rotgestreiften Markisen über den Fenstern des Empfangs und Restaurants bestand, eine Bemühung, die allerdings, so schmuddelig und voller Vogeldreck, wie die Markisen waren, eher auf einen anderen Geist in früheren Zeiten verwies. Ein gelangweilter, pickeliger Hotelpage brachte mich zu meinem Zimmer und überreichte mir den Schlüssel, der an einem großen Brett befestigt war, so unpraktisch zum Herumtragen, dass mit Sicherheit keiner der Gäste dieses ungastlichen Etablissements auch nur einen Schritt vor die Tür ging, ohne den Schlüssel am Empfang zu hinterlegen. Nachdem der Page die Heizung angedreht und die Vorhänge für den Ausblick auf ein gegenüberliegendes Betongebäude geöffnet hatte, stand er wartend herum, ging sogar so weit, die Minibar auf die richtige Zusammenstellung kleiner Flaschen und Dosen zu überprüfen, bis mir schließlich einfiel, ihm ein Trinkgeld zu geben, er mir einen guten Morgen wünschte und verschwand.
    Sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, überwältigte mich ein Gefühl von Einsamkeit, einer bodenlosen Einsamkeit, wie ich sie seit Jahren, vielleicht seit meiner Studentenzeit nicht mehr empfunden hatte. Um mich zu beruhigen, packte ich die wenigen Sachen aus, die sich in meinem Koffer befanden. Ganz unten lag Daniels Kalender. Ich nahm ihn heraus und setzte mich aufs Bett. Bis dahin hatte ich ihn nur durchgeblättert, ohne weitere Bemühungen, das zwergenhafte Spanisch zu entziffern, aber jetzt, da ich nichts anderes zu tun hatte, versuchte ich den Sinn zu begreifen. Soweit ich verstand, schien es eine ziemlich stumpfe Aufzeichnung seines Lebens zu sein: was er gegessen hatte, welche Bücher er las, wen er traf und so weiter, eine lange Liste ohne jede Reflexion über das, was er tat, ein banaler Marsch gegen das Vergessen, so ineffektiv wie jeder andere. Natürlich suchte ich nach Lottes Namen. Ich fand ihn sechs Mal: unter dem Datum des Tages, an dem er das erste Mal geklingelt hatte, dann an fünf weiteren Tagen, immer solchen, an denen ich in Oxford gewesen war. Mir brach der Schweiß aus, ein kalter Schweiß, da die Heizung noch auf ihre Wirkung warten ließ, und ich griff zu einem Fläschchen Johnnie Walker. Dann stellte ich den Fernseher an, und bald darauf schlief ich ein. In meinen Träumen sah ich Lotte auf allen vieren, wie der Chilene sie von hinten nahm. Als ich aufwachte, war nur eine halbe Stunde vergangen, obwohl es mir viel länger vorkam. Ich wusch mir das Gesicht und ging nach unten, überließ meinen Schlüssel der anderweitig beschäftigten Empfangsdame, die dicke Bündel deutscher Mark zählte, und begab mich auf die graue Straße, wo es gerade zu regnen begann. Ein paar Ecken vom Hotel entfernt sah ich eine Frau schluchzend an die Klingelleiste eines bräunlichen Wohnblocks gelehnt. Ich dachte daran, stehen zu bleiben und sie zu fragen, was los sei, vielleicht sogar, ob sie nicht etwas mit mir trinken gehen wolle. Ich verlangsamte, als ich näher kam, so nahe, dass ich die Laufmasche in ihrem Strumpf bemerkte, aber dann war mir diese Rolle doch zu fremd für den Menschen, der ich mein Leben lang gewesen war, und ich ging weiter.
    Diese Tage in Frankfurt vergingen mit quälender Langsamkeit, wie wenn etwas Lebloses, durch alle Tiefen

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