Das große Haus (German Edition)
trudelnd, allmählich auf den Meeresgrund sinkt und es immer dunkler, immer kälter, immer hoffnungsloser wird. Ich verbrachte meine Zeit damit, an den Mainufern auf und ab zu laufen, denn so weit ich sehen konnte, war die ganze Stadt grau, hässlich und voller elender Menschen, und es gab keinen Grund, mich über diese Ufer, wo die Franken einst mit ihren Wurfspießen gelandet waren, hinauszuwagen; außerdem waren die schönen großen Bäume unten am Fluss das Einzige, was eine Art beruhigende Wirkung auf mich hatte. Fern von ihnen stellte ich mir das Schlimmste vor. In meinem Hotelzimmer liegend, zu unruhig, um etwas zu lesen, das riesige, am Türschloss hängende Brett vor Augen, sah ich Daniel Varsky hemdlos durch die Küche stolzieren, sah ihn meinen Kleiderschrank nach einem frischen Hemd durchforsten, wobei er alles, was ihm nicht passte, auf den Boden fallen ließ, oder ins Bett schlüpfen, in unser Bett, das wir fast zwanzig Jahre lang geteilt hatten, zu einer nackten Lotte. Wenn ich es nicht mehr aushielt, zwang ich mich wieder auf die unwirtlichen, farblosen Straßen hinaus.
Am dritten Tag begann es zu schütten, und ich duckte mich in ein Restaurant, eine ziemliche Kneipe, wirklich, von Zombies bevölkert, so schien es mir jedenfalls in dem gedämpften Licht. Während ich dort saß, selbstmitleidig vor einem Teller mit fettigen Nudeln, nach denen meinem Magen nicht zumute war, wurde mir plötzlich etwas bewusst. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass ich Lotte vielleicht missverstanden hatte. Ich meine absolut und restlos missverstanden. Konnte es nicht sein, dass all diese Jahre, in denen ich geglaubt hatte, sie brauche Regelmäßigkeit, Routine, ein von allem Ungewöhnlichen verschontes Leben, in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall gewesen war? Vielleicht hatte sie sich die ganze Zeit danach gesehnt, dass irgendetwas passierte und die sorgfältig bewahrte Ordnung zerschlug, dass ein Zug die Schlafzimmerwand durchbrach oder ein Klavier vom Himmel fiel, und je mehr ich tat, um sie vor dem Unerwarteten zu schützen, desto mehr fühlte sie sich erstickt, desto unbändiger ihre Sehnsucht, bis es unerträglich geworden war.
Das schien möglich. Oder im Fegefeuer dieser Kneipe zumindest nicht unmöglich, mehr oder weniger ebenso wahrscheinlich wie jenes andere Szenario, an das ich voller Stolz darauf, wie gut ich meine Frau verstand, die ganze Zeit geglaubt hatte. Plötzlich wollte ich nur noch weinen. Aus Frustration und Erschöpfung und Verzweiflung darüber, dem innersten Kern, diesem ständig sich bewegenden Innersten der Frau, die ich liebte, nie wirklich nahezukommen. Auf das fettige Essen starrend, saß ich am Tisch und wartete auf die Tränen, wünschte mir sogar, sie möchten kommen, um mich von irgendetwas zu entlasten, denn wie die Dinge standen, fühlte ich mich so schwer und müde, dass ich mich außerstande sah, mich noch zu bewegen. Aber sie kamen nicht, und so blieb ich sitzen, schaute Stunde um Stunde dem gleichmäßig ans Fenster trommelnden Regen zu und dachte an unser gemeinsames Leben, Lottes und meines, wie alles in diesem Leben darauf ausgerichtet war, uns ein Gefühl von Beständigkeit zu verleihen, der an die Wand gerückte Stuhl, der dort stand, wenn wir zu Bett gingen, und noch da war, wenn wir aufwachten, die kleinen Gewohnheiten, die sich auf den Tag davor beriefen und den Tag danach voraussagten, obwohl es in Wahrheit alles nur eine Illusion war, genau wie feste Materie eine Illusion ist, genau wie unsere Körper eine Illusion sind, eins zu sein scheinen, während sie in Wirklichkeit Millionen und Abermillionen Atome sind, die kommen und gehen, manche als Neulinge, andere, um uns für immer zu verlassen, als wäre jeder von uns nur ein großer Bahnhof, aber nicht einmal das, da auf einem Bahnhof wenigstens die Steine und die Gleise und die Glaskuppel stillstehen, während alles andere hindurcheilt, nein, es war noch schlimmer, eher wie ein riesiges leeres Feld, auf dem jeden Tag ein Zirkus entsteht und sich von selbst wieder abbaut, das ganze Ding, von oben bis unten, aber nie derselbe Zirkus, also welche Hoffnung bestand überhaupt, je etwas von uns selbst zu begreifen, geschweige denn voneinander?
Schließlich näherte sich meine Bedienung. Ich hatte nicht gemerkt, dass der Raum sich geleert hatte, auch nicht, dass die Tische abgeräumt waren und die Kellner weiße Tischtücher auflegten, als würde sich das Lokal für den Abend in etwas Respektableres verwandeln. Die
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