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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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wie ihre eigene Mutter. Endlich zu Hause, wiederholte Lotte und strahlte. Hallo, Arthur, sagte sie, strich sich die Hose glatt und ging an mir vorbei ins Haus.
    Anschließend erzählte mir die Frau, die tatsächlich Friedensrichterin war, folgende Geschichte: Gegen drei Uhr war sie über den Flur zu einer Besprechung mit einem Kollegen gegangen, und als sie wiederkam, saß Lotte dort, ihre Handtasche auf dem Schoß, geradeaus starrend wie auf dem Beifahrersitz eines fahrenden Autos, während sich vor ihren Augen unbekannte Landschaften entfalteten, oder als wäre sie in einem Film, der ihr dieses Gefühl vermittelte, während sie in Wirklichkeit vollkommen still saß. Kann ich etwas für Sie tun?, fragte die Richterin, obwohl sie normalerweise angerufen wurde, wenn sie Besuch bekam und ihres Wissens kein Termin anberaumt war. Später war es ihr rätselhaft, wie Lotte es geschafft hatte, an dem Sicherheitsbeamten und an ihrer Sekretärin vorbeizukommen. Langsam wandte sich Lotte um und blickte sie an. Ich möchte ein Verbrechen melden, sagte sie. Gut, sagte die Richterin und setzte sich Lotte gegenüber, weil ihr sonst keine andere Möglichkeit geblieben wäre, als sie wegzuschicken, und das hatte sie nicht übers Herz gebracht. Was ist das für ein Verbrechen? Ich habe mein Kind weggegeben, verkündete Lotte. Ihr Kind?, fragte sie, und in diesem Moment begann sie zu ahnen, dass Lotte mit ihren damals fünfundsiebzig Jahren vielleicht desorientiert war oder ihre Sinne nicht ganz beieinanderhatte. Am 20. Juli 1948, fünf Wochen nachdem es geboren war, sagte sie. Wem haben Sie es gegeben?, fragte die Richterin. Es wurde von einem Paar aus Liverpool adoptiert, sagte Lotte. In diesem Fall hat niemand ein Verbrechen begangen, sagte die Friedensrichterin.
    Daraufhin wurde Lotte still. Erst still und dann verwirrt. Verwirrt und dann panisch. Sie stand abrupt auf und bat darum, nach Hause gebracht zu werden. Sie stand da und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte, als hätte sie vergessen, wo die Tür war, als wäre der Ausgang auf demselben Weg verschwunden wie der Rest. Als die Richterin nach ihrer Adresse fragte, gab Lotte ihr einen deutschen Straßennamen. Vom anderen Ende des Ganges war ein Hammergeräusch zu hören, und Lotte machte einen Satz. Schließlich erlaubte sie der Richterin, in ihrer Handtasche nach ihrer Adresse und Telefonnummer zu suchen. Die Richterin rief bei uns an, sprach mit der Pflegerin und gab ihrer Sekretärin Bescheid, sie sei bald zurück. Während sie das Gebäude verließen, blickte Lotte sie an, als hätte sie diesen Menschen noch nie gesehen.
    Eine Kälte strömte mir in den Kopf, eine Art schwere Betäubung, als wäre Eis durch meine Wirbelsäule aufgestiegen und breitete sich im Gehirn aus, um mein Sensorium vor dem Schlag zu schützen, den die Neuigkeiten ihm soeben versetzt hatten. Ich schaffte es gerade noch, mich bei der Friedensrichterin für alles zu bedanken, und sobald sie abgefahren war, feuerte ich die Pflegerin, die fluchend ging. Ich fand Lotte in der Küche vor einer Schachtel Kekse, aus der sie sich bediente.
     
    Zuerst tat ich nichts. Ganz langsam begann mein Gehirn abzutauen. Ich lauschte den Geräuschen, wie Lotte sich durchs Haus bewegte, ihrem Atem und dem Knacken von Gelenken, dem Schlucken und Befeuchten trockener Lippen und dem leisen Stöhnen, das sie ihrem Mund entfahren ließ. Als ich ihr beim Ausziehen und Baden half, wie ich es jetzt tun musste, schaute ich auf ihren schmächtigen Körper, von dem ich jeden Millimeter zu kennen glaubte, und wunderte mich, wie es mir entgangen sein konnte, dass er ein Kind geboren hatte. Ich roch ihre Gerüche, die gewohnten und die neueren ihres fortgeschrittenen Alters, und ich dachte mir: Unseres ist das Zuhause zweier Spezies. Hier, in diesem Haus, leben zwei verschiedene Arten, eine an Land und eine im Wasser, eine, die sich an die Oberfläche klammert, und eine, die in den Tiefen lauert, und doch teilen sie dank irgendeinem Schlupfloch in den Naturgesetzen jede Nacht dasselbe Bett. Ich schaute Lotte an, wie sie ihr weißes Haar im Spiegel bürstete, und ich wusste, dass wir einander von nun an bis zum Ende jeden Tag fremder und fremder werden würden.
    Wer war der Vater dieses Kindes? Wem hatte Lotte das Baby gegeben? Hatte sie es je wiedergesehen oder irgendwie Kontakt gehalten? Wo war es jetzt? Ich drehte und wendete diese Fragen in meinem Kopf, Fragen, von denen ich kaum glauben konnte, dass ich sie überhaupt

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