Das große Haus (German Edition)
stellte, als würde ich mich fragen, warum der Himmel grün sei oder warum ein Bach durch die Wände unseres Hauses floss. Lotte und ich hatten nie darüber gesprochen, welche Liebesverhältnisse es gab, bevor wir uns kannten; ich aus Respekt vor ihr und sie, weil sie so mit der Vergangenheit umging: in totalem Schweigen. Natürlich war mir klar, dass sie Liebhaber gehabt hatte. Ich wusste zum Beispiel, dass der Schreibtisch ein Geschenk eines dieser Männer war. Vielleicht war er der Einzige gewesen, was ich allerdings bezweifelte; sie war schon achtundzwanzig, als ich sie kennenlernte. Aber jetzt dämmerte es mir, dass er der Vater des Kindes sein musste. Was sonst konnte ihre seltsame Bindung an den Tisch erklären, ihre Bereitschaft, mit diesem monströsen Ding zu leben, und nicht nur zu leben, sondern tagein, tagaus im Schoß des Ungeheuers zu arbeiten – was sonst, wenn nicht Schuldgefühle und, ziemlich sicher, ein Bedauern? Es dauerte nicht lange, bis meine Gedanken unvermeidlich auf den Geist von Daniel Varsky stießen. Wenn es stimmte, was sie der Friedensrichterin gesagt hatte, musste er in etwa das gleiche Alter haben wie ihr Kind. Ich habe mir nie vorgestellt, dass er tatsächlich ihr Kind sein könnte – das wäre einfach unmöglich gewesen. Ich wusste nicht, wie sie sich benommen haben würde, wenn ihr erwachsener Sohn zur Tür hereingekommen wäre, aber sicher nicht so, wie sie es getan hatte, als sie ihren Blick zum ersten Mal auf Daniel ruhen ließ. Und doch verstand ich plötzlich, was sie an ihm so angezogen hatte, und mit einem Schlag wurde die ganze Sache klar, oder zumindest leuchtete sie als Ganzes ein, ehe sie sich in weitere Unbekannte und weitere Fragen auflöste.
Es muss vier Jahre nach dem Abend gewesen sein, an dem Daniel Varsky zum ersten Mal bei uns geklingelt hatte, im Winter 1974, als Lotte mich eines Abends an der Paddington Station abholte und ich schon beim Einsteigen ins Auto merkte, dass sie geweint hatte. Beunruhigt fragte ich, was mit ihr sei. Eine Zeitlang sprach sie nicht. Wir fuhren schweigend über den Westway und durch St. John’s Wood, am dunklen Rand des Regent’s Park entlang, wo manchmal das geisterhafte Blitzen eines Läufers durchs Scheinwerferlicht huschte. Erinnerst du dich an den Jungen aus Chile, der vor ein paar Jahren zu Besuch war? Daniel Varsky?, fragte ich. Natürlich. Dabei hatte ich keine Ahnung, was sie mir sagen wollte. Alles Mögliche schoss mir durch den Kopf, aber nichts davon auch nur annähernd im Sinne dessen, was dann kam. Vor ungefähr fünf Monaten wurde er von Pinochets Geheimpolizei verhaftet, sagte sie. Seine Familie hat seitdem nichts mehr von ihm gehört, und sie haben allen Grund zu glauben, dass er getötet wurde. Erst gefoltert und dann getötet, sagte sie, und während ihre Stimme über diese albtraumhaften letzten Worte glitt, blieb sie ihr nicht unter zurückgehaltenen Tränen in der Kehle stecken oder verkrampfte sich, sondern weitete sich nur, wie Pupillen in der Dunkelheit, als künde sie nicht von einem Albtraum, sondern von vielen.
Ich fragte Lotte, woher sie das wisse, und sie erzählte mir, dass sie hin und wieder mit Daniel korrespondiert hatte, bis sie eines Tages nichts mehr von ihm hörte. Zuerst hatte sie sich keine Gedanken gemacht, da es oft lange dauerte, bis ihre Briefe, die ihm immer von einem Freund nachgeschickt wurden, bei ihm ankamen; Daniel selbst war ziemlich viel unterwegs, darum hatte er eine Abmachung mit einem Freund, der in Santiago lebte. Sie schrieb noch einen Brief und hörte wieder nichts. Da begann sie sich Sorgen zu machen, zumal sie wusste, wie schlimm die Lage in Chile war. Also wandte sie sich diesmal direkt an den Freund, um zu fragen, ob mit Daniel alles in Ordnung sei. Es verging fast ein ganzer Monat, ehe sie schließlich eine Antwort von dem Freund bekam, der ihr schrieb, dass Daniel verschwunden sei.
An diesem Abend versuchte ich Lotte zu trösten. Aber gleichzeitig war mir bewusst, dass ich es gar nicht konnte, nicht wusste wie, dass wir im Begriff waren, gemeinsam eine leere Pantomime aufzuführen, weil für mich nicht die geringste Hoffnung bestand, zu erfahren oder zu verstehen, was der Junge ihr bedeutet hatte. Es war nicht für mich bestimmt, aber trotzdem wollte sie meinen Trost oder brauchte ihn sogar, und obwohl ich annehme, ein besserer Mensch hätte vielleicht anders empfunden, war doch ein Körnchen Missgunst in mir. Nur ein winziges, nicht mehr, aber während ich sie im
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