Das große Haus (German Edition)
anbahnte. Zum ersten Mal wurde mir das Vertrauen geschenkt, mich an einer persönlichen Angelegenheit der Familie zu beteiligen. Wir nahmen das Auto, einen schwarzen Citroën DS von 1974. Nach dem Starten des Motors musste man einen Augenblick warten, bis die Hydraulikpumpe Druck aufbaute und den hinteren Teil der Karosserie von den Rädern hob. Der Vordersitz war eine durchgehende Bank, und während Joav fuhr, saß ich dicht neben ihm. Der Wagen glitt auf die Autobahn, und wir redeten darüber, wohin wir einmal reisen wollten (ich nach Japan, er zu den Nordlichtern), über Ungarisch versus Finnisch, nächtliche Eingebungen, Befreiung durch Misserfolg, über Joseph Brodsky, Friedhöfe (mein Liebling war San Michele, seiner Weißensee) und das Haus von Jehuda Amichai in Jemin Mosche. Joav erzählte mir, wie seine Mutter ihn als Kind immer am Ärmel gezupft hatte, wenn Amichai in einem Bus vorbeifuhr oder mit Plastikkörben voller Lebensmittel vom Shuk die Straße entlangging. Schau ihn an, pflegte sie dann zu sagen, ein Mann wie jeder andere, der seine Einkäufe nach Hause schleppt. Und doch kämpfen in seiner Seele all die Träume, Freud und Leid, Liebe und Bedauern, all die bitteren Verluste der Menschen, denen er auf der Straße begegnet, um einen Platz in seinen Worten. Und auf einmal waren wir zusammen dort, im Jerusalem seiner Kindheit. Er erzählte mir von dem Haus in der Ha’Oren-Straße, wo es nach muffigem Papier, feuchten Zisternen und duftenden Gewürzen roch, und von seiner Mutter, die sich viele Jahre zuvor bei ihrem ersten Besuch in Ein Karem in dieses Haus verliebt hatte, und wie sein Vater, sobald er etwas Geld verdiente, als Erstes dem Besitzer einen Besuch abstattete, um den Preis auszuhandeln. Eines Tages fragte er seine Frau, ob sie mit ihm spazieren gehen wolle, und langsam, über Umwege, gelangten sie wie zufällig an das Haus in der Ha’Oren-Straße, wo er den Schlüssel aus der Tasche zog und das Tor öffnete, während sie fassungslos zurückblieb, etwas erschrocken, wie man immer etwas erschrickt, wenn ein Traum plötzlich Wirklichkeit wird.
Rückblickend glaube ich, dass ich während meiner ganzen Zeit in England nie so glücklich war wie auf dieser Fahrt, an Joav geschmiegt, der den Wagen lenkte und mir dabei erzählte. Es dauerte nicht lange, bis wir Folkestone erreichten, mit dem Wagen auf den Autozug fuhren und England hinter uns ließen. Im Tunnel funktionierte das Radio nicht, und wir hatten weder einen CD-Player noch einen Kassettenrecorder, aber wir küssten uns in der Stille unter dem Kanal, bis wir in Calais wieder auftauchten. Wir sahen Wegweiser zu den Schlachtfeldern von Ypern und Passendale, hielten uns jedoch östlich in Richtung Gent. Vor Brüssel wurde es nebelig, und auf der Strecke an einem Kanal entlang scheuchten wir Krähen auf, die an den heruntergekommenen Randbezirken der Stadt schlagartig verschwanden. Wir verirrten uns in einem Labyrinth von Einbahnstraßen, Rondellen und größeren Verkehrsadern, die gar nicht oder so verwirrend ausgeschildert waren, dass wir anhalten mussten und einen afrikanischen Taxifahrer nach dem Weg fragten. Er lachte, als wir weiterfuhren, wie einer, der über die fragliche Adresse etwas wusste, was wir nicht zu wissen schienen. Wir fuhren durch die vornehmen Gegenden von Uccle und bald wieder über Landstraßen, diesmal beidseitig von Bäumen gesäumt, prachtvolle, schnurgerade, mit Zirkel und Lineal abgemessene Alleen von einem analen Schönheitssinn, den man nur in Europa findet. Unterdessen redeten wir über die Zukunft, wie wir es selten getan hatten, obwohl nicht direkt, da es unmöglich war, mit Joav direkt über irgendetwas zu sprechen, was mit unserer Beziehung zu tun hatte, wohingegen er indirekt über die unsäglichsten und intimsten Dinge, über das Gefährlichste, das Schmerzlichste und absolut Trostloseste, aber auch über das Hoffnungsvollste reden konnte. Was dabei genau über die Zukunft gesagt wurde, kann ich nur als ein Gefühl beschreiben, das sich, so indirekt, wie wir miteinander sprachen, zwischen uns vermittelte, oder eine dahingehende Verschiebung des Gefühls, als hätte man nach tagelangen, vielleicht monatelangen Wanderungen über sumpfiges Gelände plötzlich festen Boden unter den Füßen, etwas, was sich schon damals schwer in Worte fassen ließ, aber noch schwerer jetzt, nach so vielen Jahren.
Es war spätnachmittags, als wir in die Einfahrt abbogen und vor einem verrosteten schmiedeeisernen Tor
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