Das große Haus (German Edition)
hielten. Joav kurbelte das Fenster herunter und drückte auf den Summer. Eine Minute oder länger rührte sich nichts, aber als er den Knopf gerade ein zweites Mal drücken wollte, kam Leben in das Tor, und die Flügel schwangen langsam auf. Wir fuhren den Weg hinauf, unter den Reifen des Citroën knirschte der Kies. Wer wohnt hier?, fragte ich und versuchte, einen beiläufigen Ton zu wahren, unbeeindruckt von dem steinernen Schloss mit Schiefertürmchen, das hinter den mächtigen alten Eichen in Sicht kam, denn Joav sollte vor allem nicht bereuen, mich mitgenommen zu haben. Mr. Leclercq, sagte er, was die Situation nur noch absurder machte, da ich nie etwas von einem Leclercq gehört und keine Ahnung hatte, wer er sein könnte.
Ich nahm an, wer auch immer reich genug wäre, um an einem solchen Ort zu leben, müsse rund um die Uhr von Butlern und Zofen umgeben sein, von einer livrierten Dienerschaft, die einen Puffer zwischen ihm und jeglicher noch so geringen physischen Kraftanstrengung bildete. Aber als wir klingelten und die wuchtige, mit Messing beschlagene Tür sich knarrend öffnete, stand niemand anders da als Leclercq persönlich, in kariertem Hemd und Strickweste, fast zwergenhaft vor der Marmorflügeltreppe hinter ihm. Ein riesiger Leuchtkörper aus Bleiglas hing, leicht in einem Windstoß schwankend, an einer Messingkette über seinem Kopf. Ansonsten war es innen dunkel und still. Als Leclercq uns nacheinander die Hand entgegenstreckte, war ich eine Sekunde oder den Bruchteil einer Sekunde unfähig zu reagieren, wie gelähmt von krampfhaften Überlegungen, an wen genau unser Gastgeber mich erinnerte, und erst nachdem meine Hand fest umschlossen in der seinen lag, wurde mir mit einem kalten Schauer klar, dass es Heinrich Himmler war. Sein Gesicht war natürlich gealtert, aber das kleine spitze Kinn, die dünnen Lippen, die runde Drahtbrille und, direkt über der Fassung beginnend, diese riesige Ausdehnung flacher Stirn, eine ununterbrochene Ebene, die sich weit über jede Proportionierung hinaus in die Höhe zog und dort auf einen lachhaften, fast schrumpfförmigen Haaransatz stieß – das alles war unverwechselbar. Während er uns mit einem anämischen Lächeln willkommen hieß, wurden seine kleinen gelben Zähne sichtbar.
Ich suchte Augenkontakt zu Joav, aber soweit ich es beurteilen konnte, nahm er die Ähnlichkeit nicht wahr und folgte dem Hausherrn bereitwillig hinein. Leclercq führte uns durch einen langen, auf Hochglanz polierten Korridor; seine schuppigen, geschwollenen Füße, an denen dicke Adern hervortraten, steckten in roten Samtpantoffeln. Wir kamen an einem riesigen, goldgerahmten Spiegel mit Glaskröseleinschmelzungen vorbei, der unsere Gesellschaft einen Moment doppelt so groß und die Stille noch unheimlicher erscheinen ließ. Vielleicht spürte Leclercq es selbst, denn er wandte sich an Joav und begann auf Französisch mit ihm zu sprechen – über unsere Reise, soviel ich verstand, und die großen, altehrwürdigen Eichen, die schon vor der Französischen Revolution auf diesem Anwesen gepflanzt worden waren. Ich rechnete mir aus, dass Himmler, selbst wenn sein Suizid im Lüneburger Verhörzimmer ein Schwindel und das berühmte Foto der am Boden liegenden Leiche ein inszenierter Trick gewesen wären, mittlerweile achtundneunzig Jahre alt sein müsste, während der agile Mann, dem wir folgten, kaum älter als siebzig sein konnte. Aber wer sagte schon, dass er nicht irgendein Verwandter war, wie diejenigen Hitlers, die in den grünen Vororten auf Long Island sprießen und gedeihen, ein Neffe oder einzig überlebender Cousin des Aufsehers der Vernichtungslager, der Einsatzgruppen, der Tötung von Millionen? Er blieb vor einer geschlossenen Tür stehen, zog einen Ring mit schweren Schlüsseln aus der Tasche, fummelte nach dem richtigen und öffnete uns einen großen, holzgetäfelten Saal mit Ausblick auf den sich in alle Richtungen erstreckenden Park. Ich schaute hinaus, und als ich mich wieder umdrehte, starrte Leclercq mich mit einem Interesse an, das mich nervös machte, obwohl es vielleicht nichts anderes ausdrückte als sein Wohlgefallen daran, endlich einmal ein bisschen Gesellschaft zu haben. Indem er uns winkend einlud, Platz zu nehmen, verschwand er, um einen Tee zu holen. Allem Anschein nach war er allein in dem Schloss.
Als ich Joav fragte, ob er bemerkt habe, dass unser Gastgeber Himmler wie aus dem Gesicht geschnitten sei, lachte er, und als er merkte, dass es mir
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