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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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teleskopischen Augen des Meisters gesehen. Ich trat näher, um es zu betrachten. In einer Ecke pinkelte ein Mann an eine Hauswand, während sich in dem Fenster oberhalb eine derbe Frau mit bulligem Gesicht anschickte, ihm einen Topf Wasser über den Kopf zu schütten. Etwas weiter hinten war ein Mann mit Hut ins Eis eingebrochen, unbeachtet von den Schlittschuhläufern um ihn her, die vergnügt weiterliefen – nur ein kleiner Junge hatte den Unfall bemerkt und versuchte dem Ertrinkenden das Ende seines Stocks zu reichen. An diesem Punkt war die Szene erstarrt: Der Junge vorgebeugt, der Stock hingehalten, aber noch nicht ergriffen, und plötzlich neigte sich alles dem schwarzen Loch zu, das die ganze Szene zu verschlucken drohte.
    In der Küche tastete ich nach dem Licht. Als ich es endlich fand, traf mich fast der Schlag, denn dort, auf einem Stuhl an dem von Hackmessern verschrammten Holztisch, kniete ein kleiner Junge mit weißem Haar und knabberte an einem Hühnerbein. Wer bist du?, fragte oder rief ich, obgleich die Frage weitgehend rhetorisch war, denn in der ersten Schrecksekunde war ich mir sicher, dass es niemand anders sein konnte als der elfische Knabe, den ich gerade auf dem Breughel-Bild betrachtet hatte und der zum Essen hereingekommen war. Der Junge, höchstens acht oder neun Jahre alt, wischte sich gelassen mit dem Handrücken über das fettige Gesicht. Er trug einen Spiderman-Schlafanzug und ein Paar verwarzte Hausschuhe an den Füßen. Gigi, sagte er. Das schien ein ungewöhnlicher Name für einen Jungen. Weitere Erklärungen standen offenbar nicht bevor, denn Gigi hopste von seinem Stuhl, warf den Knochen in den Müll und verschwand in der Speisekammer. Als er kurz darauf wieder zum Vorschein kam, hatte er die Hand bis zum Ellbogen in eine Keksdose versenkt. Er zog ein Plätzchen heraus und bot es mir an. Ich schüttelte den Kopf, und Gigi zuckte mit den Schultern, biss selbst hinein und kaute nachdenklich. Sein Haar war am Hinterkopf verworren und verknotet, wie wochenlang ungekämmt und vernachlässigt. Tu as soif?, fragte er. Was?, sagte ich. Er tat so, als tränke er aus einem imaginären Glas. Oh, sagte ich, nein. Und dann, vollkommen absurd: Weiß Mr.   Leclercq, dass du hier bist? Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Hä?, sagte er. Mr.   Leclercq? Weiß er, dass du hier bist? Tonton Claude?, fragte er. Ich versuchte zu verstehen. Mon oncle?, sagte er. Er ist dein Onkel ? Das konnte kaum wahr sein. Gigi biss wieder in sein Plätzchen und wischte sich eine helle Haarsträhne aus den Augen.
    Gigi führte mich die Treppe hinauf, immer noch an seinem Plätzchen knabbernd, so ein schwereloses, leichtfüßiges Kind, aber vielleicht wirkte es auch nur so gegen die dunkle, erdrückende Architektur von Cloudenberg. Als wir den Treppenabsatz erreichten, warf ich einen Blick auf den Breughel, um zu sehen, ob der Junge verschwunden, der Mann mit dem Hut ertrunken sei. Aber die Figuren waren zu klein, von meinem Standort aus unmöglich zu erkennen, und Gigi, der vorausrannte, bog gerade um eine Ecke. Den Rest des Plätzchens im Mund, streifte er die Krümel an seiner genoppten Schlafanzughose ab, zog ein Matchbox-Auto aus der Tasche und ließ es an der Wand entlangfahren. Dann steckte er das Auto wieder ein und nahm meine Hand. Wir gingen durch einen langen Gang nach dem anderen, schlüpften durch Türen und Treppen hinauf, und während Gigi bald hüpfte, schlenderte oder wie ein Wiesel davonhuschte, bald kehrtmachte und wieder meine Hand ergriff, bekam ich zunehmend das Gefühl, die Orientierung zu verlieren, ein keineswegs unangenehmes Gefühl. Die Umgebung wurde immer schmuckloser, bis es schließlich eine schmale Holztreppe hinaufging, die sich höher und höher wand, und mir klarwurde, dass wir uns in einem der Schlosstürme befanden. Oben war ein kleiner Raum mit vier schmalen Fenstern, in jede Himmelsrichtung eines. Eine Scheibe war geborsten, und der Wind kam durch. Gigi knipste eine Lampe an, deren Schirm mit lauter Stickern von Tieren und Regenbögen beklebt war, manche davon halb abgekratzt, vielleicht aus Langeweile. Auf dem Fußboden lagen Decken, ein Kopfkissen mit einem verblichenen Blümchenbezug und ein Haufen verlumpter Kuscheltiere, die eine Art zerzaustes Nest bildeten. Außerdem ein halber Laib altes Brot und ein Glas Marmelade ohne Deckel. Es kam mir vor, als wären wir in einer Tierhöhle gelandet, in einem Bau, wie man ihn aus Kinderbüchern kennt, gefüllt mit heimeligen

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