Das große Haus (German Edition)
bitterernst war, sagte er nein, er habe es nicht bemerkt, und als ich ihn bedrängte, gab er zu, ja, eine kleine, eine winzige Spur von Ähnlichkeit sei schon möglich, wenn man den alten Mann mit zugekniffenen Augen in einem gewissen Licht betrachte. Aber Leclercq, versicherte er mir, stamme aus einer der ältesten Adelsfamilien Belgiens, die ihre Ahnen bis auf Karl den Großen zurückverfolgen könne; der Vater seiner Mutter sei ein Vicomte gewesen und habe Leopold II. eine Zeitlang als Direktor einer Kautschukplantage im Freistaat Kongo gedient. Die Familie habe im Krieg den größten Teil ihres Vermögens verloren. Was übrig geblieben sei, hätten die enormen Grundsteuern geschluckt, bis sie am Ende ihren ganzen Gutsbesitz verkaufen mussten und nur Cloudenberg, den geliebten Familiensitz, behielten. Leclercq war der letzte Überlebende unter seinen Geschwistern, und soviel Joav wusste, hatte er nie geheiratet.
Eine wahrscheinliche Geschichte, wollte ich gerade sagen, aber da ertönte am hinteren Ende des Ganges ein furchtbares Getöse, dann ein blechernes Scheppern und Rollen von Dosen oder Töpfen. Wir folgten den Geräuschen den Korridor hinunter, bis wir schließlich die große Küche hinter dem Esszimmer fanden und Leclercq auf allen vieren zwischen einem Sortiment von Metallschüsseln, die oben aus dem Hängeschrank gefallen waren. Im ersten Augenblick dachte ich, er weine, aber es stellte sich heraus, dass er seine Brille verloren hatte und nicht sehen konnte. Wir gingen auf die Knie, um ihm zu helfen, und so krochen wir alle drei auf dem Fußboden herum. Ich entdeckte die Brille unter einem Stuhl. Ein Glas war gesprungen, und Leclercq unternahm hilflose Versuche, die Drahtbügel an den Ohren wieder zurechtzubiegen. Auf der Ablage stand ein Tablett mit einer Schachtel Vanilleplätzchen, und als Leclercq sich die gesprungene Brille wieder ins Gesicht setzte, musste ich mir eingestehen, dass von der frappierenden Ähnlichkeit mit Himmler nicht mehr viel übrig blieb und die Assoziation, die ich gehabt hatte, vermutlich eine Ausgeburt meines beschränkten Wissens über die Natur von Weisz’ Geschäften war.
Vielleicht sah die Welt mit der kaputten Brille anders für ihn aus, jedenfalls verströmte Leclercq jetzt eine Art Traurigkeit, die ihm nachwehte, als wir ihm über die langen Flure und gewundenen Gartenwege folgten, an geschorenen Hecken vorbei durch das Buchsbaumlabyrinth, treppauf und treppab (aber meistens aufwärts) in alle Winkel des großen, in die Wolken ragenden Steinschlosses, das seiner Umgebung ein blühendes Kolorit verlieh, ähnlich der Blutwolke, mit der sich das Wasser rund um einen harpunierten Seehund füllt. Er schien vergessen zu haben, warum wir gekommen waren – bisher hatte er den Tisch, vielleicht auch eine Kommode, eine Uhr oder einen Stuhl, was auch immer der Grund unserer Reise sein mochte, mit keinem Wort erwähnt, und Joav war zu höflich, ihn darauf anzusprechen. Stattdessen verlor sich Leclercq irgendwo in den endlosen Alleen, den Kehren und Wenden seiner eigenen Stimme, während sie die lange, bis ins zwölfte Jahrhundert zurückreichende Geschichte von Cloudenberg aufrollte. Das ursprüngliche Schloss war einem Feuer zum Opfer gefallen, das in der Küche angefangen, den großen Festsaal verheert, sich die Treppen hinaufgefressen und alles verschlungen hatte, Wandteppiche, Gemälde, Jagdtrophäen sowie des Hausherrn jüngsten Sohn, der mit seiner Amme im dritten Stock gefangen war – ausgenommen die gotische Kapelle, die in einiger Entfernung auf einem Hügel stand. Manchmal war Leclercqs Stimme nur noch ein Flüstern, und ich konnte mir kaum zusammenreimen, was er sagte. In solchen Momenten dachte ich, er hätte es vielleicht nicht einmal bemerkt, wenn Joav und ich davongeschlichen, Schritt um Schritt zurückgegangen und mit dem Citroën die lange Auffahrt bergab wieder verschwunden wären, so versunken schien er in die verwickelten Affären, die Geheimnisse, Triumphe und Enttäuschungen von Cloudenberg, und dann kam mir dieser Mann mit dem verrückten Sprung in seiner Brille, den ledernen, geschwollenen Füßen und seiner trügerischen steilen Stirn wie eine Nonne vor, obschon der Vergleich etwas seltsam klingen mag – eine Nonne, die sich mit Leib und Seele nicht Gott verschrieben hatte, sondern den nüchternen Steinen von Cloudenberg.
Als der Rundgang (wenn man es so nennen kann) endete, war es Abend. Wir setzten uns zu dritt um den vernarbten Holztisch in der
Weitere Kostenlose Bücher