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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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Unterschenkel nach vorne und geht auf den Fußballen, sehr eirig, aber zügig, seine rechte Hand – die mit den geringelten Fingernägeln – schwingt rhythmisch mit. Robert geht hinterher, den Blick geradeaus, mit großen Schritten; er hat seine Leinenschuhe ausgezogen und trägt sie an den Schnürsenkeln über der Schulter. Abu dreht sich zwischendurch besorgt nach mir um.
    Ich will ihm sagen, dass er sich keine Sorgen um mich zu machen braucht, dass mich der Derwischmann von mir aus beschimpfen und beleidigen soll, solange er uns zu Ana bringt. Aber meine Stimmbänder sind wie durchgeschnitten.
    Es kommt einfach kein Ton aus mir raus.
    Ich bewege den Mund und höre keine Worte – weil der Derwischmann offenbar eine Suggestionstechnik ausgepackt hat, denke ich, weil er ein ganz spezielles Hypnoseverfahren gegen mich anwendet? Anders ist es nicht zu erklären – ich gehe gegen einen Widerstand an, während Abu sich auch noch von mir wegdreht, als wäre ich die seltsame Person.
    Und da ist es dann wieder.
    Ich sehe es ganz genau.
    Wie der Derwischmann ein winziges bisschen an mir vorbeisieht mit seinen Vogelaugen, es ist Millimeterarbeit, eine ganz perfide und teuflische Millimeterarbeit, die er hier beherrscht. Ein kaum merklicher Dreh. Er guckt dich an und guckt dich doch nicht an, und du wirst wahnsinnig dadurch, als würde deine körperliche Form verschwimmen, als würdest du dich langsam auflösen.
    Eine Grabeskälte, die er verströmt.

    Dann bleibt er auf einer Düne stehen und stellt die Lampe in den Sand. Steht da wie aus Bronze und sagt, dass wir uns jetzt gegenseitig betrachten sollen, dass wir einmal selbst überprüfen sollen, ob wir vertrauenswürdig sind.
    «Er will jetzt versuchen, uns zu vertrauen», sagt Abu. «Aber erst mal müssen wir uns selbst gegenseitig einschätzen und vertrauen.»
    Robert nickt mir aufmunternd zu, beginnt, mich auf eine freundliche, wohlwollende Weise zu mustern. Ich mache mich grade und mustere ebenso wohlwollend zurück, so gut ich es kann. Wir stehen alle ganz ernsthaft da und tun so, als würden wir uns intensiv betrachten, um uns einzuschätzen. Wobei der Derwischmann die Augen zumacht und seinen Messerstock hebt.
    Abu übersetzt: «Wenn ihr die Augen zumacht und den anderen noch seht, dann ist es ein Geist, dem man nicht trauen kann, und wenn ihr ihn nicht mehr seht, weil ihr die Augen zuhabt, dann ist es ein richtiger, zuverlässiger Mensch.»
    Logisch, sage ich. Ohne dass es jemand hört.
    Und es scheint mir tatsächlich eine in sich stimmige Ordnung zu sein, in die uns der Derwischmann hier reinziehen will, ein stimmiges Wahnsystem, das einen anzustecken droht, wie Roberts Ein-Mann-Sprache früher. Aber ich öffne und schließe trotzdem die Augen, versuche, alles richtig zu machen, und Robert sagt: «Ja. Ich glaube, dass wir alle vertrauenswürdig sind.»
    Dafür kriegt er Applaus.
    Der Derwischmann lächelt und klatscht sanft in die Hände. Fast etwas schwul. Aber ich bin auch einverstanden, natürlich, wir alle sind einverstanden, hoffe ich. Wir wurden jetzt alle als ausreichend vertrauenswürdig erkannt?
    Zumindest, übersetzt Abu, habe Robert ein zweites Gesicht. Er sei jemand, der hinter die Dinge gucken könne, sodass er – der Derwischmann – Roberts Einschätzung großen Respekt entgegenbringe.
    Sodass wir jetzt zu Ana gebracht werden?
    «Fast. Der Derwischmann möchte, dass du noch einmal die Augen schließt», sagt Abu.

    Ich rieche Kümmel.
    Die hornige Hand des Derwischmannes auf meinem Gesicht.
    Er sagt, ich solle ganz still stehen bleiben, er werde in diesem Moment erkennen, wer ich bin. Ich sei nämlich doch vorhanden, wenn auch auf eine ungute Weise, ich sei ein typischer Abendländer. Ich sei einer, der immer nur sich selbst sehen könne. Ich liefe schon mein Leben lang durch die Wüste, und schon mein Leben lang sei ich unfähig, andere Menschen zu sehen, deshalb würde ich wohl ewig durch die Wüste laufen müssen und ewig alleine bleiben. Und was ich eigentlich suchte, sei auch nicht Ana, sondern immer nur mich selbst, aber ich würde es niemals schaffen, da ich ja immer nur das eine sehen könne: mich selbst. Und unerträglich dumm sei ich auch. Ich sei so dumm, dass es noch nicht mal schade sei um mich. Und diese Dummheit sei nicht zu entschuldigen, auch wenn ich früher mal diese schlimme Sache erlebt hätte, diese schlimme Sache mit dem Tod eines Freundes oder einer Freundin … ich zucke zusammen … oder eines Familienmitglieds …

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