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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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heute Nacht.
    Ich solle Tyrhkrdn von ihr grüßen.

2
    Vollmond, hellbrauner Himmel. Wir sind aus Abus Schrottkarre gestiegen und befinden uns im Rücken der Stadt, soweit ich das begreife, ein gutes Stück von den Lehmhäusern des letzten Straßenzugs entfernt. Als wir uns noch mal umdrehen, setzt sich Abus Karre langsam rollend in Bewegung, er muss zurücksprinten, neu parken und seine Steinplatten vor die Reifen wuchten. Es ist, als wollte das Auto vor dieser Gegend hier fliehen, vor dieser toten, graubraun schimmernden Mondlandschaft.
    In deren Mitte ein Derwisch auf uns wartet.
    Mutter Merizadi hat es uns im letzten Moment erzählt, sie sagt, sie habe gedacht, es sei uns klar gewesen: Tyrhkrdn sei ein Pseudonym der Derwische, und den Derwisch hier aus der Gegend kenne sie sogar, wenn auch nur ganz entfernt. Der solle klug sein, eine Art halber Intellektueller. Derwisch und Kommunist zugleich.
    Robert hat gleich eins seiner Mystikbücher rausgeholt. Ich solle ihn mal machen lassen, mit diesen Derwischen müsse man auf eine bestimmte Weise kommunizieren. Er kenne sich damit aus, er gehöre sozusagen zur selben geistigen Familie.

    Wir laufen durch ein trockenes Flussbett auf ein steinernes Brückengewölbe zu, aus dem leise Gesänge hallen – verbotene Gesänge, öffentliches Musizieren ist verboten. Man hat sich offenbar zurückgezogen, tief in das schattige Gewölbe hinein, in diese kühlen, hallenden Katakomben, die sich vor uns öffnen. Ein paar Kerzen brennen, die Stimmen gehen im Chor von Wand zu Wand. Ganz vorne singt eine helle Stimme, hinten antworten mehrere tiefe; eine Subkultur, hat Abu gesagt, junge Männer, die uralte Gesänge zelebrieren, vorislamische Klagelieder, in denen es hauptsächlich um den Tod und um das Sterben gehe. Ein glattes Gesicht taucht kurz aus dem Schatten, mit dünnen Augenbrauen und schmalem Mund, ein junger, aristokratisch wirkender Mann. Flüstert etwas, führt uns ein Stück weiter, verschwindet wieder im Dunkeln.
    Frauen sind offenbar keine anwesend.
    Ein Tunnel voll todessehnsüchtiger junger Männer, von denen einige Kerzen halten, sodass man ihre Rüschenhemden sieht. Gegner des modernen Lebens, sagt Abu, Leute, die Zettel mit mystischen Formeln an Fastfood-Restaurants kleben. Was Robert offensichtlich interessiert – überhaupt seien die meisten Leute hier ja noch viel traditioneller und spiritueller, hat er im Auto gesagt. Er fühle sich da sehr verbunden. Und jetzt nicken Abu und er sich zu, obwohl Abu seinerseits wieder von Kanada, Neuseeland und dem freien Leben dort geredet hat. Die beiden gehen ganz einvernehmlich nebeneinanderher. Mit ihrem völlig gegensätzlichen Gerede.
    Auf der anderen Seite der Brücke wird es wieder heller. Wir treten auf eine von der Hitze des Tages noch nachglühende Sandfläche hinaus. In einiger Entfernung glimmt ein großer, ovaler Felsen.
    «Dort sind wir verabredet», sagt Abu.

    Wir gehen und gehen, und der Stein wird größer, und als wir da sind, sitzt da tatsächlich jemand, gleichzeitig selbstverständlich und unwirklich: ein verhärmter Greis. Die Beine weit von sich gestreckt, in der rechten Hand einen Stock mit einem langen Messer obendrauf; die Augen geschlossen. Intellektuell wirkt er nicht grade, aber eine merkwürdige Ernsthaftigkeit geht von ihm aus – er hat etwas von einer Krähe an sich mit seiner spitzen Nase und seinen grauen Fädenhaaren. Dunkel gekleidet; aus der Brusttasche seines Hemdes guckt ein Mobiltelefon, an seinem Stock scheinen Wurzeln oder Blätter herunterzuhängen – mein Herz sticht, als ich sehe, dass es Fingernägel sind. Der Mann hat ekelerregend lange Fingernägel an der rechten Hand, realitätsverzerrend, bestimmt vierzig Zentimeter; schon leicht geringelt um den Stock herum. Neben ihm steht eine rote Kerze in einem bauchigen Glas.
    «Salam», sagt Abu.
    Nichts.
    Wir setzen uns erst mal hin, respektvoll mit etwas Abstand im Schneidersitz. Abu nickt ihm zu und sagt etwas auf Persisch, als er kurz die Augen aufmacht – aber dann macht er sie sofort wieder zu. Der Gesang kommt in Wellen und klingt leise nach. In der Luft und im Kopf.
    Ich sage auch noch mal: «Salam?»
    Keine Reaktion.
    Allerdings bewegt sich sein Mund kaum merklich, als empfinge er eine Stimme, oder er summt tonlos die Lieder mit, ich weiß es nicht. Plötzlich hat er ein gekräuseltes Lächeln im Gesicht.
    Lässt die Augen geschlossen, murmelt aber lächelnd vor sich hin.
    «Also», übersetzt Abu. «Er wartet noch auf ein

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