Das große Leuchten (German Edition)
auch wenn ich noch nicht genau wusste, was für eine Aktion es werden würde. Ich lief an Sperrmüllhaufen und vernagelten Fenstern vorbei, durch das blühende Unkraut zwischen den Hochhäusern, unter den Blicken der wenigen Bewohner hindurch, die weit oben als Winzköpfe zu sehen waren. Lydia hatte erzählt, dass zwei der Hochhäuser bei einem Erdbeben vor ein paar Jahren halb eingestürzt seien, deshalb wären die Leute nach und nach weggezogen, zumindest die, die es sich leisten konnten.
Der kleine Supermarkt war auch mehr oder weniger tot. Die Kassiererin schien gut über achtzig zu sein und häkelte versunken hinter der Kasse, sodass es eigentlich keine Herausforderung darstellte, sich zu bedienen. Ich legte ein Tütchen Brausepulver für zwanzig Cent aufs Band und kam mit fünfzehn Dosen Bier im Parka wieder raus in den Tag.
Angespannt?
Im Schaufenster sah es zumindest nicht danach aus, mein Dreitagebart wuchs ganz gut, und dass mein Gesicht insgesamt etwas leicht Gepresstes hatte, war von Natur aus so, dagegen konnte ich nichts tun. Außerdem erhöhte sich mein Puls inzwischen fast gar nicht mehr beim Klauen – ich wurde hier nach und nach zu dem Profi, der ich sein musste, wenn ich ein größeres Projekt angehen wollte. Denn früher oder später würden wir eine Wohnung brauchen, sagte ich mir, am besten in einem anderen, besseren Viertel, um ein richtiges Stadtleben beginnen zu können. Umgeben von zugänglichen Menschen, die uns beweisen würden, dass wir vorhanden waren, und zwar als richtige Lebensteilnehmer – dass sogar noch mehr vorhanden war, ein Viertel eben, ein Straßenzusammenhang, eine Stadt. Dass man nicht jeden Morgen im Chaos aufwachen musste. Dass man nicht jeden Morgen das Gefühl haben musste, irgendwo zu sein.
Zurück am Klapptisch zwischen den Wohnwagen erklärte Lydia, dass sie Sängerin gewesen sei, solange sie denken könne, sich aber später aus Melancholie der Filmkunst zugewandt habe.
Dann holte sie ihren Laptop raus, um surreale Kurzfilme zu zeigen.
Tatsächlich hatte sie ziemlich viele davon auf ihrer Internetseite gespeichert, wir hatten schon mehrere gesehen. Dieser hier hieß Pervert Pets : Man sah Lydia auf allen vieren über eine Wiese kriechen, in Strapsen und BH, mit einem Katzenohren-Haarreif auf dem Kopf. Nach einer Weile krabbelten zwei halb nackte Mädchen dazu, eines mit Hasenohren und eines mit Schweinenase und Ringelschwänzchen. Und die Mädchen sahen auch beide sehr schön, frisch und hellhäutig aus, und es war vielleicht sogar Kunst in irgendeinem Sinne, aber es löste auch ein bitteres Ziehen in meinem Magen aus. Offensichtlich gab es überhaupt keine Struktur in diesen Filmen, so wie es auch offensichtlich überhaupt keine Struktur gab in Lydias Leben.
«Was ist denn die Handlung?», sagte ich.
«Die Filme sind NON-LINEAR», sagte Ana. «Es passiert schon was, aber eben ANDERS. Du musst mal genauer hingucken!»
«Mein kleiner Tyrannosaurus», sagte Lydia. «Soll ich dir das Ganze noch mal erklären?»
Ich antwortete nicht, ich setzte mich in einen Klappstuhl, machte mir ein Bier auf und sah weg – ich hasste es, wenn sie mir Spitznamen gab. Sie dachte sich andauernd neue aus.
Bei ihren Filmen, erklärte sie, ginge es um Offenheit und Freiheit.
Auch um Wagemut und eine gewisse Körperlichkeit.
Der Traum des Jägers , zum Beispiel, sei ja ihr nächstes Projekt, das sie zusammen mit Ana realisieren wolle, und es solle ein sehr junger Film werden und so was wie eine Huldigung an die Jugend darstellen, denn die Jugend sei das Kostbarste überhaupt, weil man da noch ganz frei, offen und ungebunden sei. Und es sei besonders wichtig, dass man die Zeit genieße und sich ganz öffne, denn wenn man sich nicht ganz öffne und frei mache, würde man alles verpassen. Überhaupt sei alles eine Frage der Öffnung, der Freiheit und des Wagemuts, sowohl im Leben als auch, wenn es ums Filmemachen ginge. Sie selbst sei sich nie für etwas zu schade gewesen, deshalb sei sie so jung geblieben.
Dann lächelte sie Ana süßlich an, als wäre Ana ein interessantes Tierchen, und Ana trank ihr Schnapsglas leer und lächelte mit. Als hätte sie etwas herausgehört, was ich nicht verstand, etwas Ironisches vielleicht – aber es war immer halb ironisch, was Lydia sagte.
«Triceratops», sagte sie. «Geh doch mit Lescek schießen.»
«Ja, ja», sagte ich.
Er erschien gegen Abend wie aus dem Nichts auf dem Parkplatz. Stand plötzlich vor seinem verbeulten Wohnwagen
Weitere Kostenlose Bücher