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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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hinten in der Ecke und stampfte mit seinen Turnschuhen auf, sodass verkrusteter Schlamm abfiel. Das bedeutete dann, dass er das Holster mit der Browning unter seiner Bomberjacke hatte, dass wir jetzt rüber ins verlassene Sägewerk gehen konnten, um Schießübungen zu machen.
    Den Tag über trieb er sich irgendwo in der Stadt rum, es war unklar, was er tat – man bekam nicht viel aus ihm raus, er redete kaum, wenn wir durch die Dämmerung liefen. Eine weltfremde Kühle ging von ihm aus, von seinem bleichen Gesicht, seinem schielenden linken Auge und dem kleinen Surfbrettanhänger am Hals.
    Ana meinte, dass er vielleicht keinen Pass habe oder etwas mit der Russenmafia zu tun habe und gesucht werde und deshalb so zurückgenommen war. Wenn sie mit uns kam, lächelte sie im Schlendern zu ihm hoch, stellte Fragen in ihrer offenherzigen Art; es schien mir, als müsste sich eigentlich die ganze Welt für sie erwärmen. Wie sie vorausschlurfte, an den Bändchen ihrer Kapuze zog, in einer Tour redete oder die grünen Knieschoner vorführte, die sie im Sperrmüll gefunden hatte. Aber Lescek antwortete immer nur knapp, murmelte etwas Kratziges auf Russisch, tat uns einen Gefallen, indem er uns mitnahm, und strahlte trotzdem überhaupt keine Herzlichkeit aus.
    «Du bist Mann, du machst wieder Profi-Übung», sagte er zu mir.

    Dass ich aufpassen muss, dass ich mir nicht den Kopf wegschieße, dachte ich. Dass ich vielleicht die Veranlagung dazu habe, so was zu tun.
    Ich stellte mir vor, wie die letzten Wochen meiner Mutter abgelaufen waren, wie es sich tatsächlich anfühlte, wenn der Tod etwas Wünschenswertes wird. Ein paar Jahre zuvor hatte ich sie einmal auf dem Boden in der Küche unserer Wohnung gefunden, gar nicht weit von hier, seltsam auf der Seite liegend, obwohl sie ganz wach und nüchtern gewesen war. Als empfände sie ihren eigenen Körper als so ekelhaft, dass sie ihn nicht mehr richtig in Position bringen und bewegen konnte. Dass man also einfach, dachte ich, den eigenen Körper und diese Stimme im eigenen Gehirn nicht mehr erträgt, dass da ein widerlich großes Ich im Kopf heranwächst, mit dem man gar nichts zu tun haben will – sodass man dann die Entscheidung fällt und erleichtert ist.
    Die Augen sind offen. Das Bewusstsein weicht langsam aus den Pupillen. Allerdings zu langsam , dachte ich, wenn man sich ausgerechnet für diese irrationale Variante entscheidet. Zu verbluten . Von innen auszulaufen.

    «Du schießt, und du triffst», sagte Lescek zu mir.
    Er stellte sich in der kühlen Halle hinter mich und korrigierte meine Körperhaltung, platzierte neue Flaschen auf der verrosteten Sägemaschine und schob die Scherben mit einem Stock weg, wenn ich getroffen hatte. Ana ging im milchigen Licht auf den großen Fenstervorsprüngen hin und her und gab Anweisungen, die ich nicht verstand mit meinen vom Schießen betäubten Ohren.

3
    Wir rannten durch die Stadt. Wir fuhren ein Stück mit der Bahn, und dann lief ich vor ihr her und zeigte ihr die Straße, die ich ausgesucht hatte, gleich hinter einem Verkehrsschild mit spielenden Kindern drauf: Die sanft bergauf führende Bastianstraße. 1–57. Ich zeigte ihr die Kleinfamilienwohnungen in den Wohnblöcken, die mir einbruchstauglich schienen, die nicht zu gesichert wirkten, aber doch so, als hätten die Leute dort etwas Geld. Nicht reich, aber auch nicht arm, solide eben. Ana folgte mir mit ihrem hellen Blick. Es war ganz einfach, ihre Neugierde anzustacheln.

    Neben einem der viereckigen Vorgärten standen Müllcontainer, holzumzäunt in eigenen Häuschen, unter einem eigenen Dach. Wir versteckten uns dort und rauchten etwas von dem klebrigen Zeug, von dem Lydia behauptet hatte, dass es Opium sei. Es roch nach einer Mischung aus Schuhcreme und verbranntem Plastik. Aber die Straße vor uns wurde bunt und warm und wie weiches Knetgummi in der Sonne. Ich machte Ana auf die Fenster und Metallbalkone an den Wohnblöcken aufmerksam und wie diese Blöcke sich glichen und den Blick erst dadurch auf die kleinen Unterschiede lenkten: auf zwei Windspiele, auf eine Wäscheleine, auf eine Strohpuppe mit Hut, die lächelnd in einem Blumentopf saß. Als die Laternen angingen, wurde die Straße noch breiter und friedlicher. Wir wählten den Block aus, in dem wir es versuchen wollten, Bastianstraße 7–9. Ana meinte, ein besonders einladendes Licht gehe von dort aus. Etwas berührend Rötliches. Wir konnten es beide sehen.

    Dann waren wir plötzlich woanders. Die Straßen

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