Das große Leuchten (German Edition)
sie ja nicht gleich aggressiv.
Auch wenn ich jetzt diese rhythmischen Stimmen höre, aus Richtung der beiden großen Zelte. Und auch wenn sich diese Stimmen etwas zu rhythmisch anhören, als wollten sie mit ihrem Gesang Geister bändigen oder irgendwas beschwören. Und auch wenn ich mich in der Dunkelheit und im Rhythmus dieser Stimmen blind fühle und nach mir selber taste, nach dem Wasserschlauch.
Wenn ich aber will, denke ich, kann ich mich ja genauso gut entspannt und heimisch fühlen. Autosuggestion.
Indem ich nämlich einfach denke und entscheide, dass auch ich hierhergehöre, dass ich vielleicht schon immer hier gelebt und gearbeitet habe, als Orangenpflücker.
Ja, ich kann mich sogar ernsthaft verwandeln , wenn ich will, denke ich. Ich kann aus meinem Inneren heraus zu einem machtvollen Familienoberhaupt werden. Komplett mit Bart und Koran.
Indem ich jetzt langsam zurückkehre aus den Schatten des Gartens, indem ich jetzt in einer pechschwarzen, reichbestickten Abaja erscheine, die bis zu den Füßen geht. Und die mich als jemanden ausweist, der einen Überblick hat über seine Schäfchen, der zwar ein Herrscher ist, aber auch ein Liebender. Ein wahrhaft Liebender, in einem starken, verborgenen Sinn. Und indem ich mich dann zu meiner Frau Anahita setze, die schon auf mich wartet, die mir in verborgener und verhüllter Schönheit heißen Tee eingießt, während wir zusammen in den Sprechgesang einstimmen.
Harrkarrka Harrkarrkarrka.
Hüte dich vor der Mittelmäßigkeit.
Mein Name wird Kiaa, der Herrschende sein.
Während ich aber zurückkomme aus dem Schatten, während ich in das bunte Licht der Glühbirnen tauche und Bizhan gegenübertrete, der plötzlich da ist, mit einem sehr ernsten und harten Gesicht. Und der seinerseits eine Abaja trägt, allerdings eine weiße, und einen dichten Bart. Und der mir sagt, dass es ihm leidtue, dass er Anas Mutter eben unten am Kaspischen Meer gefunden habe. Tot. Und dass er nicht wisse, was dort passiert sei, dass ich aber auf jeden Fall zu spät käme.
In der Realität.
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Einsteigen
1
In die Realität einsteigen, dachte ich, darum muss es jetzt gehen. Geld organisieren und in die Realität einsteigen, und zwar schnell . Und als Ana dann krank wurde, dachte ich: Perfekt, sie muss sowieso mal eine Pause machen, sie kann nicht ewig so betrunken und überdreht durch die Straßen laufen. Und das nötige Geld kann ich genauso gut alleine organisieren. Es ist sogar unkomplizierter alleine.
Wir hatten uns in einem leerstehenden Haus in der Altstadt eingenistet, im zweiten Stock, in einer schmalen Straße. Wenn ich morgens steif gefroren zum Fenster ging, hing draußen ein Gemisch aus Smog und Sonne, ein gelber Dunst, immerhin wärmend nach der Nacht in den Schlafsäcken. Der Verkehrslärm klang dumpf und fern, unten auf der Straße bewegte sich nicht viel. Ich musste den Kopf weit aus dem Fenster strecken, wenn ich Menschen in Bewegung sehen wollte, aber sie waren da, an der Kreuzung; ich konnte sie erkennen.
«Rupert?»
Ich schloss die Fenster und setzte mich wieder zu Ana auf die Isomatten, direkt unter den großen, hellen Fleck auf der Tapete. An den anderen Wänden gab es ähnliche Stellen, dunkle und helle, in verschiedenen Größen, sodass wir Ratespiele machten, welche Möbel hier mal gestanden hatten. Ich fand, es müsse eine Küche gewesen sein, in der es einen Brand gegeben hatte, Ana meinte, eher eine Geheimbibliothek. Sie redete etwas fahrig, seit sie krank war. Ihre Handflächen waren feucht und kühl.
«Ist es schon Tag?», sagte sie.
«Rede nicht», sagte ich.
Ich wickelte ihr meinen Schal um den Hals und zog den Schlafsack zu, sodass sie etwas von einem kranken Kindchen hatte, wie sie zu mir herausblinzelte. Ganz rot und mit geschwollenen Lidern, aber friedlich. Es gefiel mir; manchmal hatte es fast etwas Witziges, wie benommen und verschlafen sie sich bewegte. Ich gab ihr warmen Schnaps, wie es meine Mutter früher bei mir gemacht hatte, wenn ich krank gewesen war; eigentlich gehörte noch eine Zwiebel dazu: Eine sanfte Lähmung kroch in die Knochen. Man trank drei Gläser und wurde sofort wieder müde.
Unbegreiflich, wie herzzerreißend sie im Schlaf aussieht, dachte ich. Ihr Schnarchen war ein reines Kindergrunzen. Ich kroch nah an sie heran und roch an ihrem Haar, erschrak, als sie plötzlich mit dem Zeigefinger in der Nase rührte, so gründlich und energisch, dass man fast weinen wollte, es sah einfach so
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