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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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dass sie überhaupt kein Mitleid haben.
    Wobei sie aber insgesamt auch Opfer sind.
    Denn das ist es, was Frances beim Abendbrot erklären will: dass sie dort gleichzeitig Täter und Opfer seien in diesem Teil der Stadt, Restposten unserer materialistischen Gesellschaft, das sei alles sehr kompliziert zu bewerten.
    Robert und ich sagen nicht viel dazu.
    Aber es ist wohl so, dass man sich Frances’ Ausflug dementsprechend doch anders vorstellen muss: Frances nicht ängstlich, sondern bewusst und entschlossen in ihrem strahlend weißen Hemd – oder zumindest als selbstbewusste alte Frau, die genug Autorität ausstrahlt, um in diesen Straßen nicht angemacht zu werden. Dunkelgrau taucht das Männerwohnheim Nicasius vor ihr auf. Benannt nach dem Schutzheiligen der Blinden, sie kennt alle Schutzheiligen mit Bedeutung und Namen. Und wie immer hat sie ihre Spenden dabei, damit die Männer mal was Gesundes trinken können, Fenchel, Maiholz, Herzkraut, Melisse, auch Wegetritt und Katzenschwanz für schwache Herzen und alternde Knochen. Und wie immer geht sie noch mit Omid spazieren oder sitzt mit ihm im Gemeinschaftsraum und führt lange Gespräche, wenn sie schon mal da ist. Beim Abendbrot grüßt sie uns von ihm. Robert und ich sagen nicht viel dazu.
    Sie sagt, er habe eine wirklich schlimme Geschichte erlebt mit seiner Flucht, und dass ihm jetzt auch noch seine Tochter abhaue und sich irgendwo in Holland rumtreibe, sei wirklich traurig – sogar mit mir habe sie ja etwas Mitleid deswegen. Es sei doch selbstverständlich, dass man sehr an seinem Kind hänge, vor allem wenn man alleinstehend sei wie er.
    Dazu stellt sie den Topf mit der Graupensuppe auf den Tisch.
    Und ich nehme Suppe und gehe davon aus, dass Omid ihr auch Fragen stellt, wenn sie so sitzen, dass Frances auch von sich erzählt im Gemeinschaftsraum und dass so ein paar schöne Stunden vergehen, während die Heimleiterin vielleicht den Tee aufbrüht – Kümmel für die Augen, Aderminze für die Lungen –, sodass auch die Gesichter der anderen Männer wieder Farbe kriegen. Und der Rollstuhlfahrer mit seinem künstlichen Darmausgang lacht vielleicht sogar glockenhell, ich weiß es nicht. Wenn Frances spätabends nach Hause kommt, ist sie eine gefühlvolle Frau; sie hat einen Heiratsantrag von Omid angenommen, und wir beglückwünschen sie dazu?
    Das glücklicherweise nicht.
    In Wirklichkeit bleibt sie höchstens zwei Stunden und ist am frühen Abend wieder hier, und sie redet auch nach wie vor nicht grade zu viel, hat immer noch ihr steinernes Gesicht – aber so ist es eben vorgesehen. Zumindest wäre sie wirklich eine andere Person, wenn sie nicht so wäre. Diese grundsätzliche Verweigerung – gegen die Welt und die Liebe und die Menschen und gegen alles, selbst dagegen, große Reden darüber zu schwingen. Sie kommt in die Küche und hackt ein paar Kräuter und schiebt sie nüchtern mit dem Messer in die Suppe, und dann stellt sie den Topf auf den Tisch, setzt sich und spricht ihr kurzes, furztrockenes Gebet. Und wird auf genau diese Art wahrscheinlich mindestens hundertzwanzig.
    *
    Denn im Nachhinein ist eben doch alles von Schicksal durchwoben, schreibe ich, zumindest im Nachhinein wird man sagen müssen: Es musste exakt so kommen . Zumal es eben doch das ganz große Märchen ist, in das ich mich hier reinsteigern möchte. Wenn auch vielleicht keine Liebesgeschichte.
    Gestern zum Beispiel – da haben wir Hühner geschlachtet.
    Frances hat in unserer Abwesenheit wieder zehn Stück gekauft.
    Ich verlaufe mich grade im Garten, als sie plötzlich dasteht und mich dazuwinkt, und wie ich das sehe, erinnere ich mich an die Hühner von früher und dass ich das Schlachten immer mochte, weil es so etwas Machtvolles und Berauschendes hatte. Alles sieht auch noch genauso aus wie damals: das Gehege und der Baumstumpf hinter der Mauer, die Wäscheleine, an der die toten Körper aufgeknüpft werden. Frances füttert die Hühner gerade noch mal, hält den Eimer in der Rechten und wirft ihnen die Körner mit knappen Bewegungen hin, als wäre ihr die Geste der letzten Fütterung peinlich.
    «Beil oder festhalten?», sagt sie.
    «Beil», sage ich.
    Denn das ist der bessere Job, ich erinnere mich – das Festhalten des kopflosen Körpers auf dem Baumstumpf ist viel unangenehmer: Die Hühner zappeln noch mal richtig, während sie sich das Blut aus dem Hals arbeiten. Ich nehme das Beil und übe schon mal in der Luft, während Frances die Hühner bringt. Sie trägt je zwei

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