Das große Leuchten (German Edition)
Menschen vorwarf, während er doch selbst der Blinde war. Aber meine Augen waren offen, ich hatte hier den hellen Blick.
Vielleicht, dachte ich, dass ich ihn zu einem Essen in unserer neuen Wohnung einladen sollte? Zu einem Familienessen, zusammen mit weiteren neuen Freunden und Bekannten vielleicht, ein Osteressen, bei dem ich ein verbindlicher Gastgeber sein würde? Ja, vielleicht würde mir bei so einem Essen von alleine der passende Kommentar zu seiner Geschichte einfallen, der jetzt nicht recht kommen wollte, an diesem runterziehenden Ort. Und als wäre der Ort noch nicht runterziehend genug, wurde auch noch ein Rollstuhlfahrer hereingeschoben, saß da plötzlich bei uns am Tisch und weinte allen Ernstes. Hatte seinen künstlichen Darmausgang im Schoß und weinte einfach stumm vor sich hin.
Ich sagte: «Omid, ich gehe jetzt, aber Ana und ich melden uns bei dir!»
Darauf antwortete er nicht. Zupfte sich nur am Ohr.
3
Ana erzählte ich davon nichts, ich wollte es erst tun, wenn wir in unserer Wohnung im Schneeweg angekommen sein würden.
An ihrem milden Blick meinte ich zu erkennen, dass sie innerlich schon länger ahnte, wohin unsere Reise gehen würde, dass sie guthieß, was ich für uns arrangierte, ohne es sich so ganz eingestehen zu wollen. Ich dachte: Alleine die Art, wie sie hin und her geht und noch einmal die Flecken an den Wänden ansieht. Ja, sie verabschiedet sich jetzt, in diesem Moment – vom lustigen bunten Tramperleben, von diesem Märchen, das wir hinter uns lassen können, weil wir klüger geworden sind. Klüger als Lydia und Lescek und Omid und Robert und Frances – klüger als alle, die sich einen Platz direkt neben der Realität gesichert hatten.
Als ich anfing, meine Sachen zu packen und kurz Lesceks Pistole aus dem Holster zog, schaute sie mich erschrocken an, aber ich nickte beruhigend, gab mit kleinen Gesten zu verstehen, dass ich alles unter Kontrolle hatte. Woraufhin auch sie mit kleinen, zustimmenden Gesten zu mir sprach, wenn ich das richtig sah.
Halbe Blicke, kaum merkliche Bewegungen, Nonverbales, Nuancen im Schatten.
4
Abends stiegen wir in einen Bus. Es war die Linie 28, die bis aufs Land rausfuhr. Ana hatte es vorgeschlagen, wir hatten eigentlich nur ein kleines Bier oder ein Glas Sekt trinken wollen mit unserem neuen Geld, aber inzwischen sah das hier nach einer fröhlichen Party aus, ein Partybus – jemand hatte geschrien und gelacht und auf den Bus gezeigt. Und wir stiegen mit einer ganzen Gruppe ein, weil die anderen auch schrien und lachten. Ich stellte mir vor, dass es so was Ähnliches wie unser gemeinsamer Junggesellenabschied werden würde, ein letztes Lautwerden, bevor wir uns in einen gesünderen und besseren Lebensrhythmus reinfühlen würden.
Was mir auffiel, war, dass die Leute alle ziemlich aufwendig zurechtgemacht waren: Es gab Seitenscheitel und Oberlippenbärte, dazu wurden zu große Brillen und bunte Skistiefel gezeigt. Die meisten schienen um die vierzig zu sein, kleideten sich aber jünger – viele sahen aus wie besonders eigensinnige Stars, die von einer Welttournee zurückgekommen waren. Andere wie Betrunkene, die sich als Fantasyfiguren verkleidet hatten. Manche schienen auch besonders jung, fast wie Kinder, aussehen zu wollen, mit Zöpfchen und Bärchenrucksäcken und Strümpfen – als ginge es um ein sexuelles Spiel mit vielen vereinbarten Zeichen. Ana baumelte an der Schlaufe, zwischen den schwankenden Körpern, mit einem nachdenklichen Gesicht.
Es war ein Stück außerhalb der Stadt, es gab Gesichter und Taschenlampen und Stimmen, und es kam mir vor, als wäre es eine eigene Spezies, die da den Berg hochzog. Als ich ein Exemplar neben mir fragte, wohin wir gingen, sagte es, dass das Ziel ein Event sei, dessen Namen es aber nicht wisse.
Die da vor mir geht, dachte ich, ist jedenfalls meine zukünftige Frau. Ich wollte sie früher oder später fragen. Eine Hochzeit war etwas Gesundes, das Klarheit bringt. Der Weg führte in Kreisen den Berg hinauf.
Ein kleiner Mensch in einem Müllmanndress tauchte zwischen uns auf, er leuchtete sich mit einer Taschenlampe ins Gesicht, und ich sah, dass er Katzenaugen-Kontaktlinsen trug. Er drückte Ana eine bauchige blaue Flasche in die Hand.
Unter dem Parka spürte ich das Holster mit der Browning. Ich überlegte, ob ich sie einem dieser Menschen verkaufen könnte, aber dann dachte ich, dass das ganz schwachsinnig wäre und dass ich sie später einfach wegschmeißen würde, irgendwo ins
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