Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
und wieder korrigiert mich jemand, eine alte Frau nimmt vielleicht mal meine Hand und biegt sie in die richtige Haltung, meist aber stümpere ich einfach stillvergnügt vor mich hin. Nebenan tanzt eine Frauengruppe in Winterjacken zum Radetzky-Marsch, weiter hinten spielen Männer Go auf einer Parkbank. Manchmal schaue ich danach noch den Wasserkalligraphen zu, die kunstvolle Segenssprüche und Redensarten mit Wasser und Pinsel auf das Pflaster schreiben, nur so zur Übung– sorgfältig, hingebungsvoll, hoch konzentriert. Nach wenigen Minuten sind die Schriftzeichen verschwunden, einfach weggetrocknet.
Letzte Woche fragte mich ein alter Kalligraph, ob er mich malen dürfe. Er sei ein pensionierter Arzt, erklärte mir ein junger Mann, der für uns übersetzte.
» Wieso trägt er eine Wäscheklammer am Ohr?«, fragte ich.
» Gegen seine Schlaflosigkeit.«
Natürlich.
Ich stelle mich also hin, um uns versammelt sich eine kleine Gruppe, die das Ganze fachmännisch kommentiert. Gemalt werden ist mal was anderes, in der Regel werde ich fotografiert. Ebenso wie in Indien bin ich hier beliebtes Fotoobjekt. 1,83 Meter, hellblond– klar. Exotenbonus. Rose hat sich in Rajasthan immer köstlich amüsiert und überschlagen, wie viel Geld sie mit mir verdienen könnte, wenn sie mich vermakeln würde. Hier in China fragen allerdings nur wenige um Erlaubnis, die meisten schießen heimlich mit dem Handy.
Der alte Mann malt ächzend, aber schwungvoll. Und schmeichelhaft, er malt mir Volumen in die Haare, wie ich es noch nie im Leben hatte. Dafür aber auch ein Kinn wie Schumacher. Anschließend schreibt er meinen Namen daneben, so wie er ihn verstanden hat: Me Ka.
Ich schüttele ihm die Hand, er macht eine kleine Verbeugung und geht davon. Und ich bleibe und schaue zu, wie mein Bild langsam auf dem Pflaster verdunstet. Am Ende bleiben nur die Haare und ein Rest vom Lächeln.
Es war einer meiner Lieblingsmomente der bisherigen vier Monate. Eine weitere Lektion darin, den Augenblick zu lieben.
Überhaupt genieße ich es, einfach mal nur Körper zu sein und sonst nichts. Zweimal die Woche gehe ich zu einer chinesischen Massage– etwas, das ich mir in Deutschland nie gönnen würde. Hier aber gehört es fast zur Grundversorgung. Der Massagesalon ist eine seltsame, einlullende Welt in permanentem Halbdunkel, in dem man nur gelegentlich ein Flüstern hört– ich glaube, er bedient irgendein verschüttetes Shanghai-Klischee in mir, denn ungefähr so habe ich mir immer die Opiumhöhlen der dreißiger Jahre vorgestellt. Für zwei Stunden– eine Stunde Ganzkörpermassage, eine Stunde Fußreflexzonen– versinke ich tief im Nirwana meiner Muskeln und Nervenstränge und torkele dann halb betäubt wieder ans Tageslicht. Oder auch in die Nacht: Mein Lieblingssalon Dragonfly hat bis 2Uhr morgens geöffnet, notfalls auch länger. Man erzählte mir, dass sich mal ein gejetlagter Tourist nachts um eins massieren ließ und dabei einschlief. Sie haben ihn einfach liegen lassen, bis er gegen 5Uhr wieder aufwachte.
Wie geht es mir also? Großartig, einfach großartig. Ich musste neulich lachen, als ich aus dem Hu-Xin-Ting-Teehaus auf die Zickzackbrücke blickte, die zu ihm führt.
Diese Form wird oft gewählt, weil Dämonen sich angeblich nur geradeaus bewegen können, man durch neun Biegungen also vor ihnen sicher ist. Genau so geht es mir mit meinem Zickzack-Kurs um die Welt: bislang frei von allen bösen Geistern.
Höchstens mit einem Dämon plage ich mich, dem Großen Zeitfresser: Ich fasse es nicht, dass fast schon ein Drittel des Jahres um ist– wie, bitte, konnte das passieren?
Gleichzeitig habe ich so ein schönes tiramisusattes Gefühl im Bauch, als ob sich die Sedimentschichten dessen, was ich bisher schon erlebt habe, dort hübsch übereinanderschichten. Heute morgen zum Beispiel saß ich in meinem seidenen indischen Morgenmantel, den ich mir in Udaipur habe nähen lassen, im Alkoven meiner Wohnung, trank grünen Tee aus meiner argentinischen Silberkanne, guckte hinunter auf den Teich mit den Koi-Karpfen, fühlte mich unfassbar reich und dachte: Dies. Ist. Es. Das reine Glück. Einer dieser Momente, an denen das Jahr bisher so reich war– und auch der geht vorbei. Schnell, schreib ihn auf, halt ihn fest, bevor er weg ist. Stattdessen begann ich, in einem Buch über Tee zu blättern, das mir Shirley hingelegt hatte. Schlug eine Seite auf, rechts ein Foto mit silbernen Teelöffeln, links ein Zitat aus Marcel Prousts Auf der
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