Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
nicht weiter der Aufregung wert. Viel irrer fand ich, dass man dazu original Einbecker Doppelbock oder Erdinger Weiße bestellen konnte– vom Kellner fachmännisch schräg in ein Weißbierglas geschenkt.
Lasst sehen, damit sind doch schon mindestens zwei bis drei klassische Elternfragen beantwortet, oder?
Geht es Dir gut? Ja, Mama.
Isst Du auch immer regelmäßig? Ja. Siehe oben.
Hast Du Dir schon was Schönes gekauft? Nein. Shanghai ist Fake City. Jede zweite Frau trägt hier eine Tasche von Louis Vuitton oder Chanel oder Gucci. Gefälscht, klar. Man muss dafür nicht mal in geheime Hinterzimmer, es gibt ein eigenes Einkaufszentrum für Fälschungen, Han City Fashion & Accessories Plaza. Wer hier kaufen will, braucht vor allem starke Nerven. Es ist ein Spießrutenlaufen durch die Gänge, und jeder, wirklich jeder Standbesitzer, kobert einen an.
»Hello lady, want bag? Hi lady, watch? Rolex! Want sunglasses? Hey lady, beautiful bag? Lady, Louis Vuitton, Prada, Gucci? Hello lady, bag! Lady!«
Anfangs schüttelt man nur den Kopf, aber ziemlich schnell muss man es einfach nur ignorieren und gehen, gehen, gehen, sonst wird man aggressiv. Ich habe den Sinn von Fakes nie verstanden und in Shanghai verstehe ich ihn noch weniger. Glaubt wirklich irgendeiner, dass er durch Tragen von offenkundig nachgemachtem Schrott in der Achtung seiner Mitmenschen steigt? Gerade wenn Fälschungen so allgegenwärtig sind wie hier, welche Bedeutung haben die Labels dann noch? Als Statussymbol taugen sie nicht, ganz im Gegenteil. Nur als Zeichen dafür, dass man gern etwas hätte, was man sich nicht leisten kann.
Nein, ich habe tatsächlich gar nichts gekauft. Aber am Ende bin ich doch kurz stehengeblieben, bei »Hey lady, what do you want?« Ich musste lachen. Was ich will? Großartige Frage, die ich mir gerade selber oft stelle.
Ich hatte gedacht, dass diese Reise bereits die Antwort ist. Aber inzwischen habe ich begriffen, dass sie vielmehr die Gelegenheit bietet, mich mit dieser Frage endlich mal wirklich zu beschäftigen. Wie will ich leben, was will ich mit den plusminus 40Jahren anfangen, die noch vor mir liegen? Es braucht ja meist eine Zäsur, um sein Leben mal aus der Vogelperspektive zu betrachten und Inventur zu machen– in meinem Fall waren es gleich zwei Einschnitte, mein 50. Geburtstag im letzten Sommer und jetzt diese Reise. Also: Was habe ich, was fehlt mir, was funktioniert, was nicht mehr, wovon möchte ich mich verabschieden, wovon brauche ich mehr in meinem Leben? Was also will ich?
Für Euch klingt vielleicht allein schon die Frage vermessen, vielleicht irritiert Euch die Unverschämtheit dieses einfachen Kindersatzes » Ich will«. Man findet seinen Platz im Leben, meist wird er einem zugewiesen, und den füllt man dann gefälligst aus, so gut es geht– so war das in Eurer Generation. Meine hingegen lebt mit dem Segen und dem Fluch, dass plötzlich viele grundverschiedene Lebensformen möglich sind, und das sogar in ein und derselben Biographie. Wir dürfen alles. Und wir können uns jederzeit umentscheiden. Das macht das Leben nicht etwa einfacher, sondern komplizierter. Ohne Leitplanken ist der Weg nun mal schwieriger zu finden.
Noch komplizierter wird es dadurch, dass das jahrhundertealte Rezept für ein gelungenes Leben (Ehe + Kinder + Eigenheim + 45Jahre im selben Beruf) ein Auslaufmodell ist und trotzdem noch der heimliche Maßstab für das Lebensglück. Wir haben noch keinen anderen aufgestellt, wir wissen noch nicht, ob die Alternativen funktionieren. Macht es auf Dauer glücklich, als digitaler Nomade durch die Welt zu vagabundieren oder Karriere und Kinder unter einen Hut zu bringen oder die Familie durch ein Freundesnetzwerk zu ersetzen oder sich die Arbeit immer wieder selbst zuzuteilen oder– größte Frage von allen– ohne Kontinuität zu leben, sei es in Beruf oder Privatleben? Keine Ahnung. Wird man sehen. Es gibt noch keine Langzeitstudien, wir sind die Versuchskaninchen der ersten Generation.
Einfach ist das alles nicht. Auf jeden Fall kommt niemand mehr um die Notwendigkeit herum, seine jeweils eigene Definition von Glück und gutem Leben zu finden. Die Endlichkeit von Lebensentwürfen– in Form von Scheidung oder Kündigung– ist längst nicht mehr die katastrophale Ausnahme wie bei Euch, sondern der Normalfall geworden, und Beweglichkeit, nicht Beharrlichkeit ist die Tugend der Stunde. In solchen Zeiten ist ein beherztes » Ich will« fast überlebenswichtig: Wenn alles wackelt,
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