Das grosse Maerchenbuch - 300 Maerchen zum Traeumen
ab, besann sich aber kurz und legte wieder an; doch zum andern Male rief es: „Schieß nicht, sonst kostet es dich dein Leben!“ Er ließ nochmals die Armbrust sinken, legte aber dann zum dritten Male an und dachte: diesmal schieß' ich drauf, mag rufen wer da will. Aber noch ehe er geschossen hatte, schwamm auf ein Mal statt des Schwanes eine wunderherrliche Jungfrau auf dem Wasser, die sprach zu ihm: „Du wirst mich erlösen und glücklich sein, wenn du ein Jahr lang alle Sonntage ein Vaterunser für mich betest und nie von meiner Schönheit sprichst.“ So sprach sie und verschwand; der Jägerbursch aber ging verwundert nach Haus und sprach von dem Tag an alle Sonntage ein Vaterunser für die Schwanenjungfer.
Als nun das Jahr fast verstrichen war, trug es sich zu, dass der König von Frankreich ein großes Vogelschießen ansagen und dabei verkündigen ließ, dass der beste Schütze seine eigne Tochter als Preiß bekommen solle. Alle Jäger im ganzen Lande kamen natürlich herbei, und unser Jägerbursch auch. Der schoss aber dem Vogel mitten ins Herz hinein, und weil Keiner ihm den Schuss nachtun konnte war er Schützenkönig und sollte die Prinzessin von Frankreich heiraten. Nun kam er in große Not, weil er der Schwanenjungfer in Treue gedachte, und von keiner Andern etwas wissen wollte. „Ich will das Glück einem Andern zukommen lassen,“ sprach er, als aber der König heftig in ihn drang, warum er so hohe Ehre verschmähe, da vergaß er sich und sagte, er habe eine Braut, die sei wohl noch tausendmal schöner, als die Königstochter von Frankreich. Die Rede war aber kaum seinem Mund entfahren, so stand auch schon die Schwanenjungfer vor ihm, schaute ihn traurig an und sprach:
›Hättest du meine Schönheit nicht gesagt,
So hättest du mich erlöset,
Jetzt musst du mich suchen im gläsernen Berg.‹
Da fiel ihm sein Leichtsinn schwer aufs Herz, er schnürte sein Bündel und zog aus, um den gläsernen Berg zu finden. Lange, lange schon war er unterwegs, als er eines Tages in einen dunklen Wald gelangte; darinnen wanderte er drei Tage und drei Nächte lang umher, bis er am vierten Morgen vor einer einsamen Waldmühle stand. Aus der Mühle trat aber alsbald ein Mann und fragte ihn, was er da wolle? er sei der Müller vom gläsernen Berg und hätte jetzt schon seit siebenhundert Jahren keinen Menschen in dem Walde gesehen. Da sprach der Jägerbursch: „Wenn du der Müller vom gläsernen Berg bist, so musst du mir auch sagen können wie ich hinein gelangen mag.“ „Dahin kannst du nicht kommen,“ erwiederte der Müller, als ihm aber der Jäger mit Bitten keine Ruhe ließ, versprach er endlich, ihm dazu behülflich zu sein. Er ging in die Mühle, holte einen gesattelten Geisbock heraus und hieß ihn aufsitzen, denn nur so könne er zum gläsernen Berge reiten. Da stieg der Jägerbursch dem Tier auf den Rücken – der Bock hatte aber kaum die Last gespürt als er anfing auf und davon zu springen, durch Wald und Haag, über Stock und Stein, schneller als das beste Roß, dass dem Reiter Hören und Sehen verging. So lief er bis dicht vor den gläsernen Berg, da warf er den Jäger ab und machte sich spornstreichs wieder nach Haus, auf dem Wege, den er gekommen war.
Vor dem gläsernen Berg aber, da war eine gar schöne frische Quelle, und weil der Jägerbursch von dem langen Ritte Durst bekommen hatte, so dachte er: Du kannst erst ein Mal trinken ehe du in den Berg hineingehst. Er bückte sich nieder zu dem klaren Wasser und wollte davon schöpfen mit seinem Trinkhorn, da rief eine Stimme: „Trink nicht, oder es kostet dich dein Leben!“ Er hielt erschrocken ein und sah sich um, weil aber Niemand da war, und der Durst ihn immer mehr quälte, so schöpfte er dennoch und trank von dem klaren Wasser. Da fiel er mit einem Male um und schlief ein, als wenn er nimmer erwachen wollte. Als er nun so dalag, stand mit einem Male die schöne Schwanenjungfer neben ihm. Sie war aber gar zornig über seinen großen Ungehorsam, zog seinen Hirschfänger heraus und wollte ihn totstechen. Sie hatte ihm die kalte Spitze schon aufs Herz gesetzt – da hielt sie wieder ein, denn Mitleid und Liebe kamen über sie und sie dachte in ihrem Sinne: er kann mich doch vielleicht noch erlösen. Also verschwand sie wieder, und er war für dieses Mal gerettet. Doch ehe die Jungfrau ihn verließ, hatte sie mit dem Finger auf die Scheide seines Hirschfängers etwas geschrieben, und als er erwachte las er diese Worte:
›Hättest du
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