Das große Wawuschel-Buch
manche Künste abhandenkommen, wenn man sie nicht übt. Wischel hatte weiter nichts getan, als eine verlorene Kunst wiederzufinden.
Als der Morgen graute, war das Menschenmädchenlängst eingeschlafen. Wischel aber saß immer noch über dem Buch, kaute an ihren grünen Zöpfen und buchstabierte, lernte und übte. Und als die Sonne ins Fenster hineinschien, da hatte sie Lesen gelernt, in einer einzigen Nacht.
»So«, dachte sie und reckte und streckte sich, »jetzt gibt mir das Menschenmädchen vielleicht noch ein bisschen von dem guten Apfelgelee. Und dann möchte ich heimgehen. Was Wuschel wohl macht? Hoffentlich ist er gut nach Hause gekommen.«
8. Kapitel
Noch einmal der Mamoffel
Ja, der Wuschel.
Nach Hause gekommen war er, wenn auch nicht besonders gut. Denn erstens hatte ihm die Beule am Kopf ziemlich wehgetan und zweitens wartete am Eingang der Höhle schon der Wawuschelvater auf ihn. In der Hand hielt er den Haselstecken.
Ehe Wuschel es sich versah, tanzte der Stecken auf seinem Rücken herum. Wuschel sagte nicht einmal »piep« dazu. Er fand das mit dem Haselstecken ganz in Ordnung. Denn wenn er Wischel nicht überredet hätte, mit durch den Berg zu kriechen, dann wäre sie jetzt nicht verschwunden.
Da kam auch schon die Wawuschelgroßmutter angelaufen.
»Wo ist mein Zauberbuch?«, piepste sie. »Du schlimmes Wawuschelkind hast mein Zauberbuch gestohlen. Wo ist es?«
Das Zauberbuch konnte sie haben. Wuschel holte es aus seiner Jacke.
»Hier.«
»Es ist ja ganz nass! Warum ist mein schönes Zauberbuch nass?«
Wuschel zuckte die Schultern.
»Wir sind in den Zazischelsee gefallen.«
»Erzähl keine Geschichten«, jammerte die Wawuschelmutter, die auch schon bereitstand, »sag lieber, wo der Drache ist! Habt ihr ihn etwa fortgezaubert? Auf einmal war er verschwunden und ich konnte überhaupt keine Marmelade mehr kochen. Wo steckt er?«
»Bei dem Mamoffel«, sagte Wuschel.
»Du sollst mir ein für alle Mal keine Geschichten erzählen«, jammerte die Wawuschelmutter, »Wischel, sag du mir … ja, wo ist denn Wischel?«
Wuschel schluckte. Einmal, zweimal, dreimal. Schließlich brachte er es heraus:
»Weg.«
»Weg?«, jammerte die Wawuschelmutter.
»Weg?«, rief der Wawuschelvater.
»Weg?«, piepste die Wawuschelgroßmutter.
»Weg?«, grunzte der Wawuschelonkel.
Wuschel nickte.
»Ja, weg.«
Und dann erzählte er die ganze Geschichte, die leider keine Geschichte war, sondern Wirklichkeit.
Die Wawuschels hörten schweigend zu. Als Wuschel fertig erzählt hatte, schwiegen sie immer noch. Sie sahen einander an, schüttelten ratlos die Köpfe und sagten schließlich nichts als »ach« und »oh« und »nein, so was« und »ach jemine«.
Denn das, was sie gehört hatten, war alles sehr schlimm.
Es war schlimm, dass es die Zazischels gab und den Mamoffel und die Menschenhöhle. Und am allerschlimmsten war, dass niemand wusste, wo Wischel steckte.
»Es hat gekracht«, fing Wuschel noch einmal an, »so wie hier, als der Herd kaputtgegangen ist. Nur viel schlimmer. Dann sind lauter Steine herumgeflogen. Und dann war Wischel weg. Vielleicht ist sie vor Angst weggelaufen, weil doch der Berg so sehr gewackelt hat. Die Menschen wollen bestimmt unseren Berg kaputt machen. Sie haben irgendwelche Krachdinger und bald fällt der ganze Berg zusammen.«
Der Wawuschelvater nickte mit finsterem Gesicht.
»Das glaube ich auch. Aber es ist egal. Wenn nur Wischel wiederkommt.«
»Könnte doch bloß einer von uns in dem Zauberbuch lesen«, jammerte die Wawuschelmutter, »dann könnten wir sie herzaubern.«
»Oder wenn wenigstens der Drache hier wäre«, piepste die Wawuschelgroßmutter, »der Drache könnte siesuchen. Er hat sechs Augen und kann sicher eine Menge sehen.«
»Ihr habt den Drachen von uns weggezaubert«, sagte der Wawuschelvater, »los, los, Wuschel, zaubere ihn wieder her.«
»Ich kann nicht zaubern«, sagte Wuschel. »Wischel hat gezaubert. Der Spruch steht auf der Seite, wo ein F oder so was Ähnliches ist, wie in ›Die Kuh frisst auf der Wiese‹.«
»Weißt du denn nicht, welche Seite es war?«, fragte die Wawuschelmutter.
Wuschel schüttelte den Kopf. Er konnte sich beim besten Willen an nichts erinnern, nicht einmal an den Marmeladefleck.
»Aber du, Vater«, sagte die Wawuschelmutter, »du liest doch immer ›Die Kuh frisst auf der Wiese‹, du kennst doch gewiss ein F oder wie es heißt. Hier, nimm das Zauberbuch und suche es.«
Der Wawuschelvater blätterte und blätterte
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