Das große Yogabuch
täglichen Getriebe) zu trennen wissen.
Bin ich wirklich der, der ich glaube zu sein?
Das zweite Klesha, die falsche Einschätzung der eigenen Person (Asmita), hängt damit ganz eng zusammen. Es geht um das Konzept, das wir von unserer Person und unserem Image haben. In der Kindheit sagen uns unsere Eltern und die Menschen um uns herum, wie wir sind und was wir sind.
Eigentlich sagen sie nur, wie sie uns sehen. Wir identifizieren uns jedoch mit diesen Aussagen, die unser Aussehen, unsere Fähigkeiten und unseren Wert betreffen. Wir entwickeln ein Bild von uns, eine Identität, und glauben, dass wir objektiv so seien.
Wenn wir erwachsen sind, ist es vor allem das, was unsere Mitmenschen über uns sagen, was unser Selbstbild formt. Zusätzlich legen wir uns – bewusst oder unbewusst – ein Image zu, um uns zu schützen oder um andere dazu zu bewegen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Schließlich ist unsere Persönlichkeit aus so vielen Facetten zusammengesetzt, die wenig mit unserem wahren Selbst zu tun haben, dass wir gar nicht mehr wissen, wer wir eigentlich sind. Und oft haben wir auch keine Ahnung, warum wir wertvoll und liebenswert sind und was der Sinn und Zweck unseres Daseins in diesem Leben ist.
Haben-Wollen macht unfrei
Das dritte Hindernis (Raga) bezieht sich auf unser Verlangen und unsere Bedürfnisse, die darauf dringen, gestillt zu werden. Dieses »Haben-Wollen« richtet sich nicht nur auf Sachen, sondern vor allem auf das Erlangen von Aufmerksamkeit, Anerkennung, Zuwendung und Liebe. Da es sich hierbei um die frühesten Bedürfnisse des Menschen handelt, die leider oft nicht genügend erfüllt wurden oder nicht erfüllt werden konnten, sind sie meist unbewusst und außerordentlich drängend. Wenn wir in uns hineinhören, können wir schnell erkennen, wie häufig unsere (gerechtfertigten!) Bedürfnisse die Triebfeder unseres Handelns sind oder dass sie uns auf eine bestimmte Art reagieren lassen, wenn wir merken, dass sie nicht gesehen, anerkannt oder befriedigt werden. Häufig genug lassen uns unsere Bedürfnisse sogar wider besseres Wissen Dinge tun, die uns schaden.
Nicht-haben-Wollen auch!
Das nächste Klesha, die Abneigung, das Nicht-haben-Wollen, die Vermeidung (Dvesha), steht in ganz engem Zusammenhang mit dem Vorhergehenden. Anstatt den Realitäten des Lebens klar ins Auge zu sehen, ziehen wir es immer wieder vor, wegzuschauen, weil das, was wir sehen – zum Beispiel die Tatsache, dass wir Bedürfnisse haben –, uns mit Scham erfüllt oder uns mit seelischem Schmerz konfrontiert. Es ist erstaunlich zu erkennen, was für einen beträchtlichen Teil seiner Energie der Geist darauf verwendet, Unangenehmes zu vermeiden und Schutzschilde um die Seele zu errichten und aufrechtzuerhalten.
Angst – das Hindernis, dem keiner entfliehen kann
Das letzte der fünf Kleshas ist die Angst (Abhinivesha) – das Hindernis, das am tiefsten in uns verwurzelt ist. Es ist verbunden mit der Unsicherheit, ob und wie wir den nächsten Tag erleben werden, und der Angst, nicht geliebt zu werden. Diese Angst wird durch das Leben, das sich unaufhörlich wandelt, ständig genährt. Wir können nie wissen, ob das, was gestern galt, heute oder gar morgen noch gelten wird, ob man uns noch lieben wird, ob wir noch gesund sein werden oder ob wir unsere Arbeit behalten werden.
Aber nicht nur solche Veränderungen, die uns jederzeit treffen können, machen Angst. Auch die Formulierung unserer Bedürfnisse, die Bitte um Zuwendung oder Liebe oder das Aufzeigen eigener Grenzen bereiten Angst, denn wir riskieren damit Zurückweisung oder sogar Ablehnung. Folglich leben viele Menschen in Kompromissen. Sie wissen in ihrem Innersten, dass etwas nicht stimmt, aber wagen nicht – um des lieben Friedens willen –, eine unbefriedigende Situation anzusprechen und sich dem Konflikt zu stellen.
Je unbewusster und je stärker unsere Ängste sind, desto mehr wird unsere innere Ruhe gestört und die Klärung des Geistes behindert. Jedes Mal, wenn die Angst unbemerkt in uns hochsteigt, reagiert nicht nur unser gesamtes Nervensystem mit Panik, sondern der Geist ist wie gelähmt und außerstande, uns bei der Lösung unserer Probleme wirklich behilflich zu sein. Patañjali sagt, dass diese Angst jedem Menschen innewohne, selbst dem Weisen, und dass es das Klesha sei, das man am schwierigsten abbauen könne.
Angst erfordert eine hohe Achtsamkeit, damit sie nicht beginnt, uns zu kontrollieren. Es geht nicht darum, die Angst zu
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