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Das gruene Gewissen

Das gruene Gewissen

Titel: Das gruene Gewissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Moeller
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beschäftigt. Der Staat setzte auf Braunkohle, die einzige Energiequelle, die er nicht importieren musste. Nirgendwo war die Abhängigkeit von ihr höher als hier. Das Kombinat Schwarze Pumpe wurde dadurch zum größten Braunkohleveredlungskomplex der Welt. Was es sonst noch an Energie brauchte, kam aus der Sowjetunion. Die Drushba-Trasse der Freundschaft brachte Öl aus dem Osten. Nach Schwedt an der Oder. Und nach Leuna in Sachsen, wo man den Kraftstoff machte. Und nach Rostock, der Stadt meiner Kindheit.
    Nach Vorbild der Drushba-Trasse begann der Staat in den siebziger Jahren mit dem Bau einer weiteren Trasse aus Sibirien: einerfür Gas. Die DDR entsandte dafür Tausende Fachkräfte in die UdSSR. Auch ältere Brüder und Väter von Schulfreunden von mir wirkten an dem Projekt mit, das eine Art North Stream oder Nabucco-Pipeline des Ostens war. Monatelang waren sie nicht zu Hause, gruben fern der Heimat die Erde auf. Ein abenteuerliches, fast imperiales Gefühl beschlich uns trotz der Parolen der Lehrer über den siegreichen Sozialismus und die Leistungen der Ingenieure. Uns bewegten die Bilder und flüchtig dahingeschriebenen Briefe auf beflecktem Papier, in denen von Temperaturschwankungen die Rede war. Und von Sehnsucht nach daheim, nach der Familie.
    In den Schulpausen – wir tranken Grüne Wiese, ein Cocktail aus Blue Curacao und Orangensaft, und rauchten die ersten Zigaretten bis zur Übelkeit – betrachteten wir Schwarzweißfotos, auf denen Männer im Schlamm arbeiteten oder, gestützt auf Schaufeln, in die Kamera grüßten. Einer von ihnen trug ein Fußball-Trikot, die meisten Unterhemden. Im Hintergrund sah man dichtes Nadelgestrüpp, das bis an den Horizont heranzureichen schien. So ungefähr musste Sibirien aussehen. Was, wenn da draußen etwas passierte? Trassen mochten Öl und Gas transportieren können, jedoch keine Informationen.
Der Fortschrittsgeist der Nachkriegszeit
    Aus heutiger Sicht ist die Leidenschaft, die man Kohle, Öl und Gas einmal als wichtigsten Rohstoffen der Gesellschaft entgegenbrachte, kaum nachvollziehbar. Sie unterschied sich in Ost und West nur wenig. Der Klimawandel war kein Thema, und selbst wenn er es gewesen wäre: Die Fortschrittserwartung war aufs Engste mit der Verfügbarkeit fossiler Rohstoffe verbunden. Erstere erhielt im Westen nach den Ölkrisen zwar einen Dreh in Richtung Kernkraft. Im Osten, wo die Wachstumskritik des Club of Rome nie ankam und die Kernkraft aus technologischen Gründen nichtdieselbe Rolle wie in der Bundesrepublik spielte, blieb aber alles beim Alten.
    Berichte über diese Zeit lesen sich darum wie Manifeste aus einer anderen Welt. Die Begeisterung war erheblich, auch bei meinem Großvater, der seit den fünfziger Jahren als Grafiker für eine Reihe großer Industriekombinate von Kleinmachnow bei Berlin arbeitete. Seine Skizzen und Texte dieser Zeit spiegeln die gesellschaftlichen Themen wider: Menschen bei der Arbeit auf dem Feld, andere im Labor oder in der Aula einer Universität, ein Chemiker mit Brenner.
    Als Kind hatte ich mich heimlich in sein Arbeitszimmer geschlichen, einen Ort der Farben und Gerüche. Im Herbst und Winter, als die Holzfenster geschlossen blieben, roch es hier nach Terpentin, das sich mit kaltem Zigarrenrauch mischte. Auf dem Arbeitstisch lagen neben dem Glasaschenbecher einige Pinsel, Zirkelspitzen und Fettstifte, deren Papiermanschetten abgerieben waren. Ich betrachtete die getuschten oder mit Rötel gemalten Porträts von Menschen, die ich nicht kannte. Es waren Männer und Frauen, die im Halbprofil gemalt waren. Sie entstammten der Zeit, als meine Großeltern infolge des Luftkriegs in einem kleinen Dorf im Eichsfeld lebten. Wenn mein Großvater nicht mit dem Beschriften von Milchkannen das Auskommen bestritt, porträtierte er Bauern, Handwerker, um ein paar Kartoffeln oder Margarine dafür zu erhalten, aber auch Schauspieler, Künstler und Ärzte aus Heiligenstadt und anderswo. Nachts dann, wenn im Flur das Licht anging oder der Mond ins Zimmer schien, kamen mir die Bilder unheimlich vor. Wie eine Galerie von Toten, die ich nie gekannt hatte, bedeckten sie die Wände.
    Neben Werbebroschüren entwarf mein Großvater auch Ärzte-Kalender für das Gesundheitsministerium oder einen für das Petrolchemische Kombinat Schwedt, das den Bedarf Berlins mit Heizöl und Diesel deckte. „Das Erdöl-Verarbeitungswerk Schwedt zerlegt das Wunderelement Kohlenstoff“, hieß es in einem Entwurf für die Vereinigung Volkseigener

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