Das grüne Haus (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
gewesen. Vor Hunger vielleicht, Don Julio? Am besten ging man gleich essen, Capitán Quiroga erwartete sie schon. Und übrigens, was für ein Mensch war denn dieser Capitán, Don Julio? Hatte seine Schwächen, wie jeder Mensch, Don Pedro: aber im großen und ganzen ein anständiger Kerl.
I
»Über ein Jahr bist du nicht gekommen«, kreischt Fushía.
»Ich versteh dich nicht«, sagt Aquilino, eine Hand wie ein Hörrohr ums Ohr gelegt; seine Augen irren über die ineinander übergehenden Wipfel der Chontas und der Capanahuas hin oder schielen furchtsam und verstohlen zu den Cabañas hinüber, die hinter einer Barriere von Binsen am Ende des Pfades hervorlugen. »Was sagst du, Fushía?«
»Über ein Jahr«, kreischt Fushía. »Über ein Jahr, daß du nicht gekommen bist, Aquilino.«
Diesmal nickt der Alte, und seine Augen, verschleiert von Augenschleim, ruhen auf Fushía, eine Sekunde lang. Dann irren sie wieder über das schlammige Wasser am Ufer hin, über die Bäume, die Krümmungen des Pfades, das Dickicht: so lange wird’s ja nicht gewesen sein, Mensch, nur einige Monate. Von den Cabañas dringt kein Laut herüber, und alles ist wie ausgestorben, aber er traute der Sache nicht, Fushía, wenn sie nun plötzlich auftauchten, wie damals, heulend, splitternackt, und den Pfad überfluteten und auf ihn zustürmten und er ins Wasser springen mußte? Würden sie bestimmt nicht kommen, Fushía?
»Ein Jahr und eine Woche«, sagte Fushía. »Ich zähljeden Tag. Und wenn du wieder gehst, werd ich wieder zu zählen anfangen, das erste, was ich jeden Morgen mache, sind die Striche. Am Anfang hab ich’s nicht gekonnt, aber jetzt kann ich mit dem Fuß umgehen wie mit einer Hand, ich pack den Stift mit den Zehen. Willst du’s sehen, Aquilino?«
Der gesunde Fuß kommt langsam nach vorn, kratzt über den Sand, wühlt in einem Steinhäufchen, die beiden heilen Zehen spreizen sich wie Zangen eines Skorpions, umklammern ein Steinbröckchen, heben sich, der Fuß bewegt sich flink, ritzt den Sand, zieht sich zurück, und eine gerade kleine Furche wird sichtbar, die der Wind in wenigen Sekunden wieder zudeckt.
»Warum machst du das, Fushía?« sagt Aquilino.
»Hast du gesehen, Alter?« sagt Fushía. »Das mach ich jeden Tag, ganz kleine Striche, jedesmal kleiner, damit sie Platz haben auf dem Stück Wand, das für mich ist, die von diesem Jahr sind viele, so an die zwanzig Reihen Striche. Und wenn du kommst, geb ich dem Pfleger mein Essen, und der wäscht sie mit Kalk ab und löscht sie aus, und ich kann wieder die Tage markieren, die fehlen. Heut abend werd ich ihm mein Essen geben, und er wird’s auslöschen.«
»Ja, ja«, die Hand des Alten bedeutet Fushía, sich zu beruhigen, »wie du meinst, also ein Jahr, werd nicht so nervös, schrei nicht so. Hab nicht eher kommen können, für mich ist’s nicht mehr so leicht, das Reisen, ich schlaf immer ein, die Arme wollen nicht mehr.Die Jahre gehen halt vorbei, verstehst du? Ich will nicht auf dem Wasser sterben, der Fluß ist gut, um drauf zu leben, nicht zum Sterben, Fushía. Warum kreischst du denn immer so, tut dir da der Hals nicht weh?«
Fushía macht einen Satz, plaziert sich direkt vor Aquilino, streckt sein Gesicht unter das Gesicht des Alten, und der weicht zurück, schneidet Grimassen, aber Fushía knurrt und hüpft nach, bis Aquilino ihn ansieht: doch, doch, er hatte es gesehen, Mann. Der Alte hält sich die Nase zu, und Fushía kehrt an seinen Platz zurück. Deswegen verstand der nicht, was er sagte, Fushía. Konnte er denn so essen, ohne Zähne? Fehlten sie ihm nicht, verschluckte er sich da nicht? Fushía schüttelt den Kopf, mehrere Male.
»Die Nonne weicht alles ein«, kreischt er. »Das Brot, das Obst, alles in Wasser, bis es weich wird und zu Brei, dann kann ich’s essen. Bloß beim Sprechen ist’s Scheiße, die Stimme will nicht richtig.«
»Sei nicht bös, wenn ich mir die Nase zuhalt«, Aquilino drückt mit zwei Fingern die Nasenflügel zusammen und seine Stimme klingt verschnupft. »Der Gestank macht mich schwindlig, mir dreht sich der Kopf. Das letzte Mal bin ich den Geruch nicht losgeworden, Fushía, nachts hab ich kotzen müssen. Wenn ich gewußt hätte, daß es so schwierig ist für dich zu essen, hätt ich dir keinen Zwieback mitgebracht. Die reißen dir ja das Zahnfleisch auf. Das nächste Mal bring ich dir ein paar Bierchen mit, Coca-Cola. Hoffentlichvergeß ich’s nicht, denn, schau, mein Kopf will nicht mehr so recht, ich vergeß alles. Bin
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