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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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jenseits des sowjetischen Daseins existierte, jenseits von Kollektivierung und Industrialisierung, jenseits von all dem staatlichen Getöse, das kaum wahrnehmbar war hinter der Musik von Beethoven, Schubert, Schostakowitsch und auch der von Mischa Gnessin, einem vollkommen vergessenen Komponisten, dem jüngeren Bruder der beiden berühmten Schwestern.
    Tamara, die viele der alten Freundinnen kannte, war erschüttert, denn sie begriff erst am Sarg der Großmutter in vollem Maße, in was für einer Welt sie gelebt hatte, diese Großmutter, die stets in einer ausgeleierten Strickjacke mit Rührei am Kragen und einer bunten Fleckensammlung auf dem Rock herumgelaufen war.
    Die alten Freundinnen – bis auf Anna Alexandrowna, die in der Pokrowka wohnte – lebten alle hier am Arbat, waren zu Fuß gekommen und standen in einem kleinen Kreis ein wenig abseits. Sie gehörten nicht direkt dazu, waren keine Musiklehrer oder Interpreten, aber Verbündete …
    Abschied genommen wurde musikalisch – gespielt wurde Musik, die Michail Gnessin für eine Meyerhold-Inszenierung von Gogols Stück Der Revisor geschrieben hatte. Ein Tribut der Liebe der aussterbenden Gnessins an die verstorbene Maria Semjonowna.
    Anschließend traten die alten Musiker zu Tamara, sagten gute Worte über Maria Semjonowna, über die Musik und über die Freundschaft. Es schien, als legten sie in all die üblichen Floskeln einen ganz neuen Sinn. Auch Anna Alexandrowna trat zu Tamara, bat, sie möge die Freunde von Maria Semjonowna nicht vergessen und sie ab und an besuchen. Und strich Tamara über das störrische Haar.
    In der neuen Wohnung wurde die alte komplett wiederhergestellt, und nun stand im großen Durchgangszimmer das Klavier, daneben ein staubiges Sofa mit einem zerschlissenen roten Teppichüberwurf, und darüber hingen dieselben Bilder wie in der alten Wohnung am Arbat, in derselben Anordnung. Nur die Großmutter war nicht mehr da, die auf dem Klavier gespielt hatte. Tamara zog vom Sofa im Durchgangszimmer bald in das dahinter liegende Zimmer der Großmutter, das beste der Wohnung. Und wurde überraschend zur Herrin dieses neuen Haushalts, der sich bemühte, sich in nichts vom alten zu unterscheiden.
    Raissa Iljinitschna, die ihr Leben lang bestrebt war, so wenig wie möglich Platz einzunehmen, zog in das kleine Zimmer neben der Wohnungstür. Schüchtern und glücklos, hatte sie in ihrem Leben eine einzige echte Tat vollbracht – ein uneheliches Kind geboren, Tamara. Der Umzug und der Tod der Mutter hatten ihr das Herz gebrochen, und nun, ohnehin stets vom Leben völlig ausgelaugt, bewegte sie sich kaum noch. Sie war noch keine fünfzig, erschien ihrer Tochter aber alt und uninteressant. Raissa Iljinitschna war derselben Meinung über sich.
    Am neuen Ort und ohne Anleitung durch die Mutter war sie ängstlich, konnte sich lange nicht an den entlegenen Wohnbezirk gewöhnen, fuhr zum Brotholen bis zum Arbat, und wenn sie zurückkehrte, zog sie sich in ihr Neun-Quadratmeter-Zimmer zurück und weinte heimlich.
    Tamara bemerkte das nicht, und wenn sie es bemerkt hätte, würde sie diesen schwachen und sinnlosen Tränen keine Bedeutung beigemessen haben. Dazu war ihr neues Leben zu spannend. Schlagartig war die Schläfrigkeit der letzten Schuljahre vorbei, alle Räder drehten sich, alle Zahnräder griffen ineinander, und alles flog und jagte dahin, so dass sie kaum zum Luftholen kam. Sie hatte unglaubliches Glück: Das Studium war interessant, die Arbeit noch mehr. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin, der sie zugeteilt worden war, Vera Samuilowna Weinberg, war für sie ein Geschenk des Himmels. Die nicht mehr junge, kluge Frau, die im Lager gesessen hatte, wurde zum Kernstück von Tamaras kompliziertem Lebensmosaik. Sie hatte eine Lücke geschlossen, nun waren für Tamara alle Fragen geklärt, die Ängste verflogen.
    Vera Samuilowna, klein und dünn wie ein Floh, schüttelte die nicht ergrauenden Lockenspiralen, die aus dem großen Knoten hervor auf Stirn und Wangen fielen, und unterrichtete die Laborantin so, als wüsste sie bereits, was für eine großartige Spezialistin diese einmal werden würde. Vera Samuilowna betrachtete Tamaras üppiges Haar, ihre geschickten kleinen Finger, registrierte ihre rasche Auffassungsgabe – das Mädchen hätte ihre Tochter sein können, nein, eher ihre Enkelin.
    Vera Samuilowna wollte Tamara sogar zu sich nach Hause einladen, sie mit ihrem Mann bekanntmachen, sie in die Familie einführen, konnte sich aber vorerst

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