Das gruene Zelt
ganz erfüllt von dem heftigen Glücksgefühl, das sie übermannt hatte. Sie war von Geburt an ein Glückskind – dank einer günstigen Sternenkonstellation oder glücklicher Gene –, doch bis zu diesem Abend hatte sie das nicht geahnt. An diesem Abend wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass ihr auch künftig viele Erfolge, Siege, ja Triumphe bevorstanden, denn die drei schönsten Jungen – der persische Prinz Rifat mit dem geschwungenen Schnurrbart, sein Freund Wowa, den er mitgebracht hatte, Student am Luftfahrtinstitut, ein breitschultriger, hochgewachsener junger Mann, dem das gewellte blonde Haar bis auf die Augen fiel (wie Sergej Jessenin auf den frühen Fotos, auf denen er noch kein Jackett mit Krawatte, sondern nur ein Hemd trägt), und Vitja Bodjagin, frisch von der Armee nach vier Jahren Dienst auf einem U-Boot, im Matrosenhemd unter der Uniformjacke und in albernen Hosen mit Knöpfen an der Seite, der es zusammen mit Olga an die philologische Fakultät geschafft hatte –, alle drei verfolgten sie mit männlich gierigen Blicken: fordernd, bittend, unterwürfig, frech. Voller Liebe, Offerten, Versprechen.
Das wäre was – wenn ich nun plötzlich heiratete. Egal, wen von den dreien. Wen ich will!, dachte Olga, berauscht von ihrem Erfolg, und beschloss, den zu heiraten, der sie als Nächster zum Tanzen aufforderte. Sie tanzte am besten von allen – ob Rock ’n’ Roll oder Tango. Und sie hatte die schlankeste Taille und die längsten Haare, obwohl sie sich den Zopf aus Überdruss abgeschnitten hatte, doch auch der Rest, rötlich schimmernd, reichte ihr noch fast bis zur Hüfte. Sie betrachtete sich von der Seite und gefiel sich ausnehmend gut. Sie gefiel allen. Alle mochten sie, die Jungen, die Freundinnen, die Nachbarn, selbst die Mütter im Elternbeirat.
Eine neue Platte wurde aufgelegt, Bill Haleys Rock around the clock , die Rifat mitgebracht hatte. Die Stimmung explodierte. Sie ließen sich von den wilden Klängen treiben, es gab keine zärtlichen Berührungen mehr, sie prallten aufeinander, flogen auseinander und prallten erneut aufeinander, und der breitschultrige Wowa schleuderte Olga durch die Luft. Hatte er sie überhaupt zum Tanzen aufgefordert? Vier Monate später sollte Olga ihn heiraten.
Sie tanzten und tranken, rauchten auf dem Balkon und in der Küche. Irgendwann waren alle müde. Manche gingen in der Nacht, andere gegen Morgen. Vika und Borja waren im Ehebett von Olgas Eltern eingeschlafen, erschüttert ob des großen Ereignisses, ihrer Vereinigung. Sie hatten eine lange, glückliche Ehe vor sich, was sie noch nicht ahnten. Auf dem Teppich im Wohnzimmer schlief ein Häuflein von fünf Gästen, die nicht solches Glück gehabt hatten. Es roch ein wenig nach Erbrochenem.
Irgendwann waren alle weg, bis auf die treuen Brintschik und Poluschka. Die Freundinnen halfen, die Spuren des jugendlichen Gelages zu beseitigen. Olga kochte Kaffee. Sie tranken wie Erwachsene aus den guten kleinen Tassen, was sich für sie allerdings noch anfühlte wie ein Spiel mit Puppengeschirr, besonders für Galja. Gegen Abend trennten sie sich und wollten sich in der nächsten Woche wieder treffen. Doch sie sollten sich erst im Juni des nächsten Jahres wiedersehen. Das Leben nach der Schule nahm einen rasanten Verlauf.
Tamaras Haus auf dem Sobatschja-Platz hatte sein letztes Jahr erlebt und wurde geräumt. Tamaras Familie musste an den äußersten Stadtrand ziehen, in die Siedlung Rabotschi Possjolok hinter Kunzewo. Die Metrostation Molodjoshnaja existierte vorerst nur auf dem Papier.
Tamara pendelte rastlos zwischen ihrem neuen Zuhause, ihrer neuen Arbeit und dem medizinischen Institut. Im Umzugsjahr starb ihre geliebte Großmutter Maria Semjonowna, eine Freundin von Jelena Gnessina und als Sekretärin der Musikerdynastie ihr Leben lang eng mit der berühmten Familie verbunden. Die alte Ureinwohnerin des Arbat hatte die Katastrophe des Umzugs nicht verkraftet.
Die Trauerfeier fand im Gnessin-Institut statt. Tamara, die seit ihrer Kindheit fast alle lebenden Vertreter dieser erstaunlichen Familie kannte, sah nun noch einmal deren letzte Überlebende – die große Jelena Fabianowna im Rollstuhl, die Begründerin des einzigen – musikalischen – Imperiums, das unter der Sowjetmacht erhalten blieb und – was damals noch niemand ahnen konnte – diese sogar überleben sollte.
Unter den Trauergästen waren viele Musiker, aber auch »Leute aus dem Publikum«, Mitverschworene des Musiklebens, das irgendwie
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