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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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nicht dazu entschließen. Ihr Mann Edwin sah trotz seiner vermeintlichen Geselligkeit nicht gern neue Menschen in seinem Haus.
    Indessen bahnte das Schicksal geschäftig andere Wege, auf denen Tamara ihrer großen Liebe begegnen konnte. Bei den Weinbergs ging nämlich Tamaras künftige Liebe ein und aus.
    Doch vorerst steckte das Aufregendste in dem alten Lehrbuch für Endokrinologie, das Vera Samuilowna ihrer Laborantin mit den Worten gegeben hatte: »Tomotschka, lern das hier auswendig. Für den Anfang. Zur Chemie kommen wir später. Mach dich erst einmal vertraut mit den Wechselbeziehungen in diesem äußerst klugen System.«
    Vera Samuilowna war besessen von ihrer Endokrinologie, im Laboratorium wurden synthetische Hormone hergestellt, in denen die Forscherin beinahe so etwas wie ein Mittel für die Unsterblichkeit des Menschen sah. Vera Samuilowna glaubte an die Hormone wie an einen Gott. Sie hätte sämtliche Probleme der Welt am liebsten mit Hilfe von Adrenalin, Testosteron und Östrogen gelöst.
    Tamara offenbarte sich ein ganz neues Bild der Welt: Der Mensch erschien ihr nun wie eine Marionette, gelenkt von den Molekülen der Hormone, von denen nicht nur Körpergröße, Appetit und Stimmung abhingen, sondern auch geistige Tätigkeit, Gewohnheiten und Zwangsvorstellungen. Zum wichtigsten Regisseur dieses Lebensspektakels erklärte Vera Samuilowna die Epiphyse, eine kleine, in den Tiefen des Gehirns verborgene Drüse. Ein erstaunliches, rätselhaftes, nur wenigen Eingeweihten zugängliches Bild! Andere Wissenschaftler räumten der Hypophyse den Vorrang ein, aber auf diesem Gebiet wurden Irrtümer zum Glück nicht mit Gefängnis bestraft.
    Tamaras eigenes Drüsensystem funktionierte wie ein Uhrwerk – die Epiphyse oder was auch immer sandte Reizsignale, die Nebennieren produzierten eine Überdosis Adrenalin, die Schilddrüse stellte Serotonin zur Reproduktion bereit –, woher sonst hätte sie diese überschäumende Energie genommen? Der Östrogenüberschuss ließ auf ihrer Stirn kleine Pickel sprießen. Es waren nicht viele, sie hätte sie unter ihrem Pony verbergen können, doch der bauschte sich störrisch, so dass sie ihn mit Haarklemmen feststecken musste. Alles war großartig. Nur fehlte ihr einfach die Zeit …
    Wenig Zeit hatte auch Galja Poluchina. Aber auch keine überschüssige Kraft – sie steckte alles in ihr Training. Mit dem Studium war es an ihrem Institut nicht weit her, sie sollten keine Pädagogen werden, sondern Titel holen. Anfangs lief alles gut, von kleinen Siegen zu immer größeren, sie träumte schon von olympischem Gold oder zumindest Silber. Bis sie sich ernsthaft verletzte.
    Im vierten Studienjahr nahm Galja an der Moskauer Meisterschaft teil und landete nach einer tadellosen Vorführung beim Sprung vom Stufenbarren so unglücklich, dass sie sich die Kniescheibe brach und das Gelenk verletzte. Danach konnte sie eine Karriere im Leistungssport vergessen. Dabei wäre sie fast in die Nationalmannschaft aufgenommen worden. Drei Monate lag sie in der Unfallklinik und wurde von der besten Chirurgin zweimal operiert. Das Knie ließ sich wieder beugen, blieb für den Sport jedoch untauglich, die Beweglichkeit des Gelenks war eingeschränkt.
    Vorbei war das aufregende Leben mit Trainingslagern, Wettkämpfen und Verheißungen. Am Institut durfte Galja immerhin bleiben. Sie klemmte sich hinter die Bücher und welkte dahin. Sie wohnte nach wie vor in ihrem Souterrain, doch nun interessierte sich niemand mehr für sie, ihr kurzer Ruhm war vorbei, sie fühlte sich wieder nichtig, hässlich und wertlos. Als Poluschka eben.
    Olga mit ihrer unerschöpflichen Energie beschloss, sich um die Freundin zu kümmern. Sie beriet sich sogar mit ihrer Mutter. Antonina Naumowna, hilfsbereit im Rahmen ihrer Möglichkeiten, löste das Problem: Galja wurde zu einem Abendkurs für Maschineschreiben geschickt.
    »Wenn sie gut tippen kann, hole ich sie zu mir in die Redaktion.« Doch dann stockte sie zweifelnd. »Aber Galja hat ja Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung, oder?«
    Nach dem Studium blieb Galja an ihrem Institut, im Dekanat. Auf einer wenig lukrativen Stelle – als Sekretärin. Nichts Großartiges, miserabel bezahlt. Aber dank der abendlichen Schreibmaschinenkurse konnte sie sich nun etwas dazuverdienen. Galja tippte schnell und übernahm gern Aufträge. Allerdings besaß sie keine eigene Schreibmaschine, sie musste die im Institut benutzen und bis spätabends an ihrem Arbeitsplatz sitzen.
    Als bei

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