Das gruene Zelt
Galja alles lief, zog sich Olga wieder zurück; ihr Leben war aufregend und bedeutend. Selbst ihre Unannehmlichkeiten waren irgendwie anders, außergewöhnlich – sie war mit einem Skandal von der Uni geflogen, hatte sich dann von ihrem Mann Wowa getrennt, natürlich eine schreckliche Dummheit, wie Galja fand, aber sofort einen Neuen gefunden. Olga hatte ihr ab und zu von sich erzählt, aber nicht viel, ohne Einzelheiten, und Galja staunte, dass Olga trotz aller Unannehmlichkeiten so über und über strahlte – ihre Augen, ihr Haar, ihre Lächelgrübchen.
Da beneidete Galja sie zum ersten Mal. Sie war nach ihrem Unglück ganz verzagt, hatte ihren Glanz verloren und begann sogar vorzeitig zu altern. Die arme Poluschka.
Poluschka wusste natürlich nichts von den schrecklichen Geheimnissen und Gefahren, von denen Olgas Leben jetzt erfüllt war. Olgas neuer Mann schnitt nach Galjas Geschmack im Vergleich mit dem Exmann Wowa schlecht ab. Dieser Ilja war zwar auch groß und lockenköpfig, aber schlaksig und schmalschultrig, kein Recke wie Wowa. Aber Olgas kleiner Sohn Kostja hing an ihm, sein Vater Wowa behandelte ihn mit militärischer Strenge und verlangte Disziplin, Ilja dagegen spielte mit ihm lärmende Spiele, galoppierte herum wie ein Pferd, sie tobten miteinander, dachten sich ständig etwas Neues aus, und Ilja wurde Kostjas liebster älterer Freund. All die kindliche Freude, die ihm sein unglücklicher und gehemmter Sohn nicht geben konnte, bekam Ilja von Kostja. Und Kostja vergötterte ihn. Sein leiblicher Vater, der sich einmal in der Woche mit dem Sohn traf und meinte, der Junge sei »unter fremden Einfluss geraten«, ärgerte sich und wollte sich immer weniger mit ihm abgeben. Und Kostja bestand auch nicht sonderlich darauf.
All diese familiären Einzelheiten kannte Galja nicht. Sie wusste auch nicht, dass Olga und Ilja in aller Stille geheiratet hatten. Sie war gekränkt, als sie es ein halbes Jahr später zufällig erfuhr. Für sie war eine Hochzeit etwas unerhört Bedeutendes. Aber hier hatte es nicht einmal eine kleine Feier gegeben. Von eigenem privatem Glück träumte Galja schon nicht mehr. Sie war neunundzwanzig, und seit ihre Karriere in die Brüche gegangen war, hatte niemand ihr auch nur einen einzigen interessierten Blick zugeworfen, kein Kollege, kein Student, kein Passant … Indessen hielt das Schicksal auf indirektem Weg über Olga ein kostbares Geschenk für Galja bereit, das deren Leben verändern sollte.
Es ist interessant zu verfolgen, welche Wege zur Begegnung von zwei Menschen führen. Manchmal ergibt sich eine solche Begegnung scheinbar ohne besonderes Zutun des Schicksals, allein aus dem natürlichen Lauf der Dinge – zum Beispiel, weil diese Menschen im selben Hof wohnen oder dieselbe Schule besuchen, sich beim Studium kennenlernen oder auf der Arbeitsstelle. In anderen Fällen wird etwas Unerwartetes arrangiert – eine Zugverspätung, ein vorbestimmtes Malheur wie ein kleiner Brand, Wasser, das aus der oberen Wohnung von der Decke tropft, eine irgendwem abgekaufte Kinokarte für die Spätvorstellung. Oder eben eine solche zufällige Begegnung: Jemand steht auf der Straße, observiert sein Zielobjekt, und ein fremdes Mädchen kommt vorbei, einmal, ein zweites und ein drittes Mal. Ein schwaches Lächeln, und plötzlich, wie eine Erleuchtung: Sie war ihm lieb, vertraut, sie war die Frau für ihn …
Aber war etwa jeder Mensch solcher Bemühungen der Vorsehung wert? Olga zweifellos. Aber Galja?
Würde sich das Schicksal etwa verausgaben für ein so unbedeutendes und wenig anziehendes Pärchen wie die Tochter eines ortsansässigen Klempners und Trinkers und den Sohn eines ebensolchen, aber bereits verstorbenen Klempners aus Twer? Übrigens sollte auch Galjas Vater, dessen Spitzname »Onkel Jura-Wasserhahn« war, bald sterben. Es passierte kurz nachdem sie alle eine neue Wohnung bekommen hatten, sehr zum Verdruss und zur Enttäuschung der Mieter ihres Hochhauses, die nun nie wieder einen so geschickten Rohrleger haben würden, der jedes Ventil und jeden Flansch in- und auswendig kannte. In seiner Gegenwart zogen sich Rohre von allein fest und Verstopfungen lösten sich ächzend von selbst auf.
Sollte sich das Schicksal tatsächlich Mühe gegeben haben für diesen blassen, misstrauischen, rachsüchtigen Jungen, den einstigen Meister im Weitpinkeln, mit dessen kraftvollem Strahl sich auf dem ganzen Hof und in der ganzen Schule niemand messen konnte?
War es denn möglich, dass er,
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