Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
Vom Netzwerk:
deutsche Kunst. Und nun sammelt er Russen.«
    »Er ist Kunstsammler?«, fragte Tamara, überrascht von dieser neuen Information über Natschalniks.
    »Naja, wenn du so willst, ist er Kunstsammler, ja.« Marlen grinste schief. »Dieser Schneider ist ein entfernter Verwandter von uns. Er sagt, er kann an diesen Natschalnik rankommen. Der nimmt natürlich nicht von jedem, kannst du dir ja denken. Aber unser Verwandter weiß, wie man an ihn rankommt, er hat so ein Ding schon mal durchgezogen. Für einen Sawrassow hat eine Familie mit vier Personen die Ausreise gekriegt. So ein kleines Bild.« Marlen demonstrierte mit den Händen die Größe des Bildes, wie der Schneider sie gezeigt hatte.
    Tamara begriff sofort.
    »Marlen, wir haben keine Peredwishniki. Das Wertvollste sind ein Korowin und ein Borissow-Mussatow.«
    »Die hat er nicht genannt. Er hat gesagt, in letzter Zeit ist der Mann auf der Jagd nach Wrubel.«
    »Wrubel war kein Peredwishnik«, erwiderte Tamara. »Wir haben einen Wrubel, aber kein Gemälde, nur eine Skizze.«
    »Was spielt das für eine Rolle? Hauptsache, wir handeln schnell. Wenn sie mich einsperren, helfen keine Bilder mehr, die Behörde untersteht ihm nicht.«
    Tamara machte Licht an. Der Engel mit dem gebrochenen Flügel hing überm Kopfende ihres Bettes. Ein großer Kopf, die Stirn zu stark gewölbt, das Gesicht nicht detailliert, alles grob skizziert, hastig und flüchtig. Aber der Flügel, himmelblau gefiedert, schillerte und flimmerte. Der Flügel war gelungen.
    »Nimm sie«, sagte Tamara leichthin. »Nimm alle.«
    »Aber verstehst du, es ist ein Risiko, vielleicht wird ja nichts daraus …« Er schien zu zweifeln, ob es lohne, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, aber Tamara sah seine Augen lebhaft glänzen, er dachte schon weiter – wohin die Bilder bringen, wie übergeben, und weiter, weiter …
    »Vielleicht. Aber sie könnten dich auch einsperren.«
    Ohne ihre Nacktheit zu verbergen – sie existierte nicht mehr –, nahmen sie die drei Bilder von der Wand, wickelten sie in Laken, dann zogen sie sich an.
    »Entschuldige, Tomotschka, aber die Sache eilt. Ich schnapp mir jetzt ein Taxi und bringe die Bilder zu meiner Tante, der Schneider will morgen um zehn bei ihr vorbeikommen. Damit alles rechtzeitig bei ihr ist. Robik lasse ich bis morgen früh hier.«
    Dann überschlugen sich die Ereignisse. Drei Tage später wurde Marlen nicht verhaftet, sondern erneut in die KGB-Kreisverwaltung vorgeladen, wo man ihm die Ausbürgerungsurkunde und die Ausreisegenehmigung für die ganze Familie aushändigte – binnen drei Tagen hatten sie das Land zu verlassen. Am folgenden Samstag kam er nicht zum üblichen Rendezvous zu Tamara. Er kam am Freitag früh kurz vorbei. Mit Robik an der Leine. Und teilte ihr mit, dass sie am nächsten Tag nach Wien fliegen würden.
    »Ich stehe bis ans Ende meines Lebens in deiner Schuld«, sagte Marlen. »Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Wenn du eines Tages doch heimkehren willst – er sagte immer »heimkehren«, nicht emigrieren –, wende dich über Ilja an mich, dann schicke ich dir eine Einladung. Robik lasse ich dir als Andenken hier.«
    Zur Abschiedsfeier ging Tamara nicht. Olga erzählte ihr hinterher, wie viele Leute sich eingefunden hätten, um Marlen zu verabschieden, wie fassungslos Lidas Eltern gewesen seien, wie überraschend das alles gekommen sei: Ausweisung statt der angekündigten Verhaftung. Ein Fest statt eines Begräbnisses. Trotzdem war es auch ein wenig ein Begräbnis.
    »Aber du gehst doch nicht weg, nein? Oder denkst du, dass am Ende alle Juden Russland verlassen werden?« Olga schaute in Tamaras erstarrtes Gesicht.
    »Nein. Was mich betrifft, nein, ich nicht. Selbst wenn alle anderen weggehen. Da kannst du ganz sicher sein.«
    So emigrierte Marlen am Ende des Jahres 1981. Im November 1982 starb Breshnew. Der große Natschalnik, Kunstsammler und Freund des Ordensträgers mit den buschigen Augenbrauen wurde seines Ministerpostens enthoben, gegen ihn wurde ein Verfahren wegen beträchtlicher Unterschlagungen und Amtsmissbrauchs eingeleitet. Der Schneider räumte die ihm zur Verfügung gestellte Wohnung rasch und verschwand. So verschwinden in schlechten Romanen Nebenfiguren, die nur eingeführt werden, um die holprige Handlung voranzutreiben. Der Besitz des einstigen Natschalniks wurde konfisziert, er selbst erschoss sich mit einem doppelläufigen Gastin-Renette-Gewehr. Oder wurde von seinen eigenen Leuten erschossen, um den Fall

Weitere Kostenlose Bücher