Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
Vom Netzwerk:
Kindheit waren ihm Dorés Illustrationen zur Göttlichen Komödie vertraut. Dieses dicke Buch hatte er in jenem halbkindlichen Alter angeschaut, da der entblößte weibliche Körper an sich lebhaftes Interesse weckt. Doch die knorrigen Geschöpfe, die sich jetzt zwei Meter vor seinen Augen tummelten, waren lebendige Rudimente von Körpern, und nur mit viel Phantasie konnte man in diesen krummen Knochen und der herabhängenden Haut die weibliche Natur erkennen.
    Im Alter hört das Geschlecht auf, schloss Boris und empfand plötzlich Entsetzen: Und ich? Wird das auch mit mir geschehen? Nein, nein, das will ich nicht, lieber gehe ich freiwillig, als einmal so gebrechlich zu werden, so jämmerlich.
    Da ertönte lautes Gelächter: Die Alten hatten ihn erwischt!
    »Oje, Njura, dein Mieter, der beobachtet heimlich die Mädchen!«
    »Versengen wir ihn mit dem Besen und treiben ihm die Frechheiten aus!«
    Njura kreischte:
    »Mit Brennnesseln! Mit Brennnesseln haben wir sie ausgepeitscht, wenn sie uns beobachtet haben!«
    »Schon gut, meine Lieben, ich will nichts von euch. Ich dachte nur, ihr braucht Hilfe, eine von euch ist doch hingefallen. Habt euch schon gefreut, was!«
    Er verschwand hinterm Vorhang. Mehrere Tage lang zeichnete er heimlich das Bad der weißen Schwäne, wie er das beobachtete Bild nannte.
    Die letzten Tapetenreste verbrauchte er für diese eigenartige Arbeit – er erinnerte sich, wie sie auf der Kunstschule Aktzeichnen geübt hatten, aber das hier hatte nichts gemein mit jener sklavischen Skizzierung, dem Kampf mit Licht und Schatten, der Nachbildung von Formen mit einem Kinderbleistift. Die Bilder wurden beklemmend. Aber irgendwie auch komisch.
    Er fertigte zwei Dutzend Zeichnungen an, dann war das Papier endgültig alle, und er langweilte sich. Just da kamen Nikolai und sein Sohn, um in ihrem Haus nach dem Rechten zu sehen. Nikolai brachte Boris viel Geld von Ilja mit. Mehr, als Boris erwartet hatte. Und von zu Hause einen Gruß und einen Brief von seiner Frau.
    Zusammen fuhren sie ins Nachbardorf einkaufen, sechs Kilometer entfernt.
    Die Verkäuferin Vera schätzte Nikolai sehr und verkaufte ihm unterm Ladentisch Wodka. Nikolai hatte aus Moskau zwei Flaschen mitgebracht, doch Boris wollte die gute Gelegenheit nutzen, sein vieles Geld auszugeben. Normalerweise mied er den Laden, er fürchtete die Dorfbewohner – wenn sie nun meldeten, dass sich ein Unbekannter hier herumtrieb?
    Sie füllten zwei Rucksäcke mit dem gesamten dürftigen Angebot des Ladens: Kekse, klebrige lose Bonbons, Sprotten, Öl, Graupen, eine Packung Erbsen, zu Ziegeln gepresstes Rote-Grütze-Pulver, Schmelzkäse, zwei Tüten Salz. Boris suchte mit den Augen die Regale ab, in der Hoffnung, etwas Richtiges zu essen zu finden. Vera musterte den Kunden – ob er vielleicht für sie in Frage kam. Eigentlich ja, doch seine Augen gierten nach Lebensmitteln, nicht nach ihr, der schönen Frau …
    Nikolai setzte den Rucksack auf, bewegte die Schultern, um die Einkäufe zurechtzurütteln, und die Flaschen klirrten leise und neckisch.
    »Bleiben Sie lange? Kommen Sie mich doch mal besuchen!« Vera stützte ihre runde Wange in eine Faust von der Farbe roter Bete.
    »Nein, Vera, danke, ich kann nicht. Ich bleibe nur einen Tag. Ich hab nicht mal das Haus geheizt, wozu Brennholz verschwenden. Wir übernachten bei der Swistnucha, und dann geht’s wieder nach Hause.«
    »Na, dann schicken Sie wenigstens Ihren Freund mal vorbei«, kicherte Vera, »wir Mädels langweilen uns nämlich. Er wohnt schon so lange hier und hat noch keine Bekanntschaften geschlossen …«
    Aha, der Dorftelegraf funktionierte also, in den umliegenden Dörfern wusste man Bescheid, dass hier ein Fremder lebte. Die beiden Freunde wechselten einen vielsagenden Blick.
    »Wir fahren ja morgen wieder ab. Im Frühjahr kommen wir wieder, dann könnt ihr Bekanntschaft schließen.«
    Njura hatte zur Rückkehr der Männer Piroggen mit Kartoffeln gebacken und war in ihre Ecke hinterm Ofen gegangen. Sinaida und Marfa ließen sich aus Taktgefühl nicht blicken.
    »Vielleicht sollten wir sie einladen?«, fragte Boris, der bereits entschieden hatte, diesen wunderschönen und schon allzu vertrauten Ort zu verlassen.
    »Nein, heute würden sie nicht kommen. Die Frauen haben eine gute ländliche Kinderstube, am ersten Tag kommen sie nie, ich weiß nicht, warum, vielleicht wollen sie nicht stören oder nicht den Eindruck erwecken, sie seien auf Mitbringsel aus. Sie haben noch eine gute

Weitere Kostenlose Bücher