Das gruene Zelt
ihre Hütte endlich abgerissen werden sollte und sie eine Wohnung in einem neuen Haus bekommen hätten – diese Einzimmerwohnung mit Gas und Warmwasser erschien ihr wie das Paradies –, stürzte sie und starb von einem Tag auf den andern, genau wie ihre Mutter. Nun gelangte sie zwar in das ihr zustehende Paradies, aber nicht aufgrund der bereits gesammelten Bescheinigungen – dass sie eine leichte Behinderung hatte, dass sie Soldatenwitwe und Aktivistin der kommunistischen Arbeit war –, sondern einfach so. Vergebens hatte Dmitri davon geträumt, mit seiner Mutter nach Moskau zu ziehen, nämlich durch einen geschickten Tausch der neuen Wohnung in Podolsk – die er nun nicht bekommen sollte – gegen ein Zimmer in Moskau. So ersparte das Pech der Mutter dem Sohn die Mühen von Tausch und Umzug.
Er hatte sie stets bedauert, die Arme. Aber schon früh, sehr früh, hatte er beschlossen, dass er nicht so leben wollte wie seine Mutter, er würde weggehen, würde irgendwie hier rauskommen, seine beschämende Herkunft ein für alle Mal ablegen. Nach dem Siebenklassenabschluss ging er an die Feldscherschule. Dort gab es nur wenige Jungen, er wurde geschätzt, und er strengte sich an. Die Armeezeit absolvierte er bereits in seinem Beruf, in einem Sanitätsbataillon. Nach der Armee blieb er nicht in Podolsk, sondern begann ein Studium am Moskauer medizinischen Institut, wo man ihn ohne Aufnahmeprüfung angenommen hatte. Von da an wurde er ein richtiger Stadtmensch.
Von seiner Kindheit auf dem Land war Dulin nur die Gewohnheit geblieben, Tiere um sich zu haben. Er sehnte sich sogar ein wenig nach einer Katze im Haus, und das Samstagskaninchen brachte er Marina mit, weil er wusste, wie angenehm sich die Wärme eines Tieres in den Händen eines Menschen anfühlte. Aber Nina wollte keine Tiere halten, nicht einmal eine Katze. Und was Nina nicht wollte, das tat Dulin nicht.
Sie hatten schon im dritten Studienjahr geheiratet. Dmitri war sechs Jahre älter als Nina und hatte das verhuschte kleine Ding durch seine Körpergröße, seine Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit für sich eingenommen. Er enttäuschte sie nicht, und sie ihn erst recht nicht. Dmitri verdankte seiner Frau alles: das Moskauer Wohnrecht, die Stelle als Assistenzarzt in der Neurologie und auch die Aspirantur. Er selbst hatte von Derartigem nicht einmal geträumt, doch Nina hatte die Stelle an einem Forschungsinstitut über Bekannte ausfindig gemacht und ihren Mann dorthin geschickt. Sie selbst arbeitete als Bereichsärztin in einer Poliklinik, weshalb sie außer der Reihe eine Wohnung bekommen hatten.
Dulin hatte sich zunächst gegen die Aspirantur gesträubt – er verstand nicht, wozu das gut sein sollte. Wenn Nina so viel daran lag, sollte sie die Stelle doch selbst nehmen und promovieren. Aber Nina hatte anders entschieden. Da das Institut eine psychiatrische Forschungseinrichtung war und Dulin auf Neurologie spezialisiert, musste er einiges in Psychiatrie nachholen – er konspektierte Lehrbücher und legte eine Aufnahmeprüfung ab. Thema seiner Doktorarbeit sollte der Alkoholismus sein – er studierte alles, was ihm zu jener Zeit zugänglich war: über Veränderungen der Psyche, über Verhaltensmuster von Alkoholikern, über Delirium und andere interessante Dinge.
Drei Jahre lang spielte Marina mit den Besuchskaninchen, solange Dulin seine Versuchstiere mit verdünntem Sprit tränkte, den er ihnen durch einen Trichter einflößte, weil sie den Alkohol nicht freiwillig zu sich nehmen mochten. Dann verteidigte Dulin seine Dissertation und wurde wissenschaftlicher Assistent. Er brachte keine Kaninchen mehr mit nach Hause, führte aber Marina nun ab und zu durch das Vivarium des Instituts: Dort gab es Kaninchen, weiße Ratten, Katzen und Hunde. Eine Zeitlang sogar Affen.
Kurz vor dem Abschluss seiner Dissertation wurde Dulin plötzlich unsicher: Die Ergebnisse waren exakt die erwarteten, seine Arbeit enthielt keine, nicht die geringste Entdeckung. Karpow, Leiter des Forschungslabors und zugleich sein Doktorvater, beruhigte ihn:
»Hohe Anforderungen an sich selbst sind eine löbliche Eigenschaft für einen Wissenschaftler. Ich versichere Ihnen, man kann sein Leben lang anständig der Wissenschaft dienen, ohne eine einzige Entdeckung zu machen. Wir sind die Arbeitspferde der Wissenschaft, wir sind es, die sie voranbringen, nicht diejenigen, die Entdeckungen machen, mitunter recht zweifelhafte. Und die Genies … Die kennen wir, diese Genies!«
Dulin
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